Gewinner und Verlierer. Das Jahr 1914 im Geschichtsunterricht und Geschichtsbewusstsein aus Internationaler Perspektive

PETER JOHANNES DROSTE (Aachen)
Vom Augusterlebnis zum Frustergebnis. Der Erste Weltkrieg in deutschen Schulbüchern

HERBERT RULAND (Eupen)
Waterloo oder Großer Krieg. Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in einem gespaltenen Land

JOACHIM CORNELISSEN (Lyon)
Der Erste Weltkrieg im Umgang in Frankreich. Noch ein wichtiger Baustein der Nationalgeschichte?

MATEUSZ HARTWICH (Berlin)
Zwischen nationalem Geschichtskanon, regionalen Identitäten und Familiengedächtnis. Der Erste Weltkrieg im historischen Bewusstsein der Polen

FRANK SCHWEPPENSTETTE (Köln)
La prima guerra mondiale im italienischen Geschichtsunterricht

HENNING HUES (Bonn)
Apartheid und Erster Weltkrieg im Geschichtsunterricht in Südafrika

MEHMET HACISALIHOGLU (Istanbul)
Das Bild des Ersten Weltkrieges in den Schulbüchern Mazedoniens und der Türkei

Abstract:
Obwohl der Erste Weltkrieg zu den Klassikern im internationalen Geschichtsunterricht gehört, unterscheiden sich der Unterricht und die Narrationen in den Perspektiven der „Gewinner und Verlierer“ beträchtlich. Nicht nur die Bezeichnung und die Dauer, sondern auch der Blick auf Ziele, Verlauf, Schuld und Ende ergeben ein heterogenes Bild. Das Jubiläumsjahr hat die internationale Forschung stimuliert und neue Perspektiven kreiert. Diese schwanken zwischen einem Weg vom Bismarckschen „Cauchemar des coalitions“ zum „Schlafwandeln“ der europäischen Politiker und mehr oder weniger gezielter Kriegsvorbereitung am Vorabend der Katastrophe. Die Problemfragen des Geschichtsunterrichtes sind aber immer noch von der jeweiligen nationalen Narration geprägt. In der Sektion werden daher ausgewiesene Kenner den Geschichtsunterricht ihrer Nation vor- und in einer zweiten Runde zur Diskussion stellen. Diese Sektion soll helfen, festgefahrene Narrationen zu hinterfragen und das Geschichtsbewusstsein der Schülerinnen und Schüler zu ergründen. Im Fokus sollen auch die nationalen Erinnerungskulturen stehen.
Bereits die Auswahl der Nationen greift über die gewohnten Perspektiven des Geschichtsunterrichts hinaus. Die Sektion versteht sich als interkulturell. In unserer modernen Migrationsgesellschaft sollte z.B. die Chance ergriffen werden, das Verhältnis des Kaiserreiches zur Türkei im Geschichtsunterricht zu thematisieren. Der deutsch-polnische Streit um den Erinnerungsort der Schlachten Grunwaldska/Tannenberg (1410 und 1914) ist in Deutschland nahezu vergessen, gleichwohl kennt jedes Schulkind in Polen Ort und Datum. Der Blick im deutschen Geschichtsunterricht richtet sich (noch immer) auf das Augusterlebnis und den erstarrenden Stellungskrieg sowie auf das zerbröckelnde Bündnissystem der Bismarck-Ära, den Zweibund und das Attentat von Sarajewo. Die Behandlung des Ersten Weltkrieges im Unterricht erfolgt in Frankreich und Deutschland nach unterschiedlichen Lehrplanvorgaben und ist mentalitätsgeschichtlich anders verankert. Anhand von Beispielseiten aus Schulbüchern und unterrichtspraktischen Erfahrungen werden diese Unterschiede illustriert und bewertet. Afrika und die Kolonien werden häufig nur unter dem Thema Imperialismus als Spannungsfelder der Vorgeschichte zum Ersten Welt-krieg gesehen. Der südafrikanische Geschichtsunterricht wird, anders als in Deutschland, z.B. stark geprägt durch die Biographie des Lehrenden. Wie in vielen, sog. Post-Conflict-Gesellschaften ist der Blick zurück in der nationalen Geschichte immer auch eine Reise in die eigene Vergangenheit. Im Unterrichten über die politischen Konstellationen und die Gründe des Kriegsausbruches 1914 etwa findet nicht selten eine Analogisierung zu Macht- und Widerstand der Apartheidzeit statt. In Italien sind die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg lokal sehr unterschiedlich. In Norditalien ist er z.B. in Straßenamen präsent. Des Kriegsendes wird in Italien durchaus noch gedacht, allerdings ohne die Festlegung von Gewinnern und Verlierern. Dort gilt dieses Datum heute als „Tag der Streitkräfte“. Von höchstem Interesse ist die Sichtweise der damaligen Weltmacht Großbritannien, die den Handel und die See dominierte. Der Blick auf Belgien versteht sich von selbst und bedarf keiner Legitimation. Dass der Erste Weltkrieg in Belgien noch immer als Bedrohung und als Genozid gesehen und unterrichtet wird, dürfte hingegen nur Wenigen bekannt sein.
Um dem Vorwurf zu entgehen, dass es sich hier lediglich um ein Anhäufen von nationalen Perspektiven handele, wird bewusst auf den Anspruch „globaler“ Geschichtsbetrachtung verzichtet. Alle Referent/innen werden in ihrem Beitrag (max. 20 Min.) die Narrative „ihrer“ Nation darstellen, einen Blick auf das kollektive Geschichtsbewusstsein und die jeweilige Erinnerungskultur werfen und abschließend kritisch miteinander diskutieren. Die Diskussion könnte konkrete Auswirkungen auf den Unterricht in den Ländern, die binationale Schulbucharbeit und die Lehrerausbildung haben.