Grenzen der Sicherheit, Grenzen der (Spät-)Moderne?

(01. Oktober 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.102)

Leitung: Prof. Dr. Cornel Zwierlein, Bochum



1. „Human security“ und „fragile Staatlichkeit“ im Frühmittelalter: Zur Fragwürdigkeit der Epochengrenze zwischen Vormoderne und Moderne

Referent/in: Prof. Dr. Steffen Patzold, Tübingen


2. Sicherheit als Privileg. Möglichkeiten und Grenzen der Sicherheitspolitik zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit

Referent/in: Dr. Stefanie Rüther, Münster


3. Naturkatastrophen um die Jahre 1300, 1700 und 2000: Sind Grenzen der Versicherbarkeit auch Epochengrenzen?

Referent/in: Prof. Dr. Cornel Zwierlein, Bochum


4. Staatliche Sicherheit und staatliches Gewaltmonopol im 19. und 20. Jahrhundert – Erstrebenswerte Norm oder historische Ausnahmeerscheinung?

Referent/in: Prof. Dr. Stig Förster, Bern


5. ‚Securitization‘: Gegenwartsdiagnose oder Prozess der ‚longue durée‘?

Referent/in: Prof. Dr. Eckart Conze, Marburg


6. Kommentar

Referent/in: Prof. Dr. Christopher Daase, Frankfurt/M.


Abstract

Die Sektion versucht, aus der Perspektive von Historikern die Folgen zu analysieren, die die
massiven Verschiebungen der Zuständigkeits- und Aufgaben-Grenzen von ‚Sicherheit‘ in der
internationalen Politik der jüngsten Zeit für die Konzeption von Epochengrenzen in unserem
Geschichtsbild hat.

Seit etwa 15 Jahren wurde in der internationalen Politik, insbesondere in den UNOrganisationen
human security zu einem Leitkonzept, das sich als komplementär zur
herkömmlichen state security versteht, das aber auch konträr zu derselben stehen kann.
Human security meint, dass die Politik der internationalen Organisationen auf die Bedürfnisse
und den Schutz der einzelnen Individuen, nicht auf Schutz allein der Grenzen, der Regierung,
der Souveränität eines Landes vor äußerer Gewalt ausgerichtet sein muss. Sicheres Wohnen
jenseits von slums, Sicherheit vor natürlichen und menschgemachten Katastrophen, Sicherheit
vor Gewalt, Kriminalität, Bürgerkriegsauswirkungen, ja selbst vor den Auswirkungen schlecht
austarierten Straßenverkehrs sind Gegenstände von human security-Politik, von NGOs und
etwa von Initiativen wie dem United Nations Human Settlement Programme. Mit dem
Prozessbegriff der ‚securitization‘ wird zu erfassen versucht, dass inzwischen eine solche
Vielzahl von Bereichen zu Gegenständen von Sicherheitspolitik erklärt werden und so das
Konzept ‚Sicherheit‘ immer stärker erweitert und entgrenzt wird. Es stehen nämlich nun Politik-
Gegenstände auf derselben kategorialen Ebene und werden zum Gegenstand internationaler
Politik erklärt, die nach dem sogenannten ‚Westfälischen System‘ größtenteils Angelegenheit
der Innenpolitik waren. Die offiziellen UN-Dokumente nehmen auch stets explizit auf dieses
‚obsolete Westfälische System‘ Bezug und positionieren die gegenwärtige Entwicklung zur
human security so als eine Entwicklung nach der klassischen Moderne. Was mit den
Souveränitätsdoktrinen eines Bodin und Hobbes und den klassischen Völkerrechtskonzeptionen
seit Grotius begann, scheint hier ein rasches Ende zu finden, human security ist
die positiv konnotierte Seite der Medaille, auf deren anderer Seite ‚Weltpolizei‘-Konzeptionen
anstatt rein zwischenstaatlicher Kommunikation steht. Vormoderne ‚Sicherheit‘ scheint so in
engerer struktureller Korrespondenz zur postmodernen human security zu stehen, die
klassische Moderne würde zum dazwischen liegenden Ausnahmefall. Damit folgt aus der
massiven Entgrenzung des Sicherheitsbegriffs auch eine massive Verschiebung der Bedeutung
von Epochengrenzen.

Immer wieder wurde von Politikwissenschaftlern wie Historikern die Idee formuliert, dass
dieser expansive Sicherheits-Begriff „keine neue Erfindung“, sondern eher die Wiederaufnahme
vor- oder frühmoderner Vorstellungen sei: Seit 1977 wird bei den Politikwissenschaftlern für die
nach-westfälische Ordnung des internationalen Systems von einem ‚new medievalism‘
gesprochen, um das Nebeneinander staatlicher, supra- und substaatlicher Akteure zu erfassen.
Bei anderen wird das antike Denken der securitas, das mehr auf die Einzelperson, nicht auf
staatlich-kollektive Einheiten bezogen gewesen sei, angeführt. Wieder andere weisen auf die
mittelalterliche christlich-naturrechtliche Ordnung hin, die Verpflichtungswirkung und damit
Ansprüche auf ‚Sicherheit‘ für alle beinhaltet habe – sei es in sozialstruktureller Hinsicht der
ständischen Ordnung, sei es in theoretischer Hinsicht etwa beim Gesellschafts- und
Sicherheitskonzept der Scholastik; wieder andere sehen im Liberalismus und auf den einzelnen
gemünzten Rechte-Kosmopolitismus der Spätaufklärung und der Revolutionskriege von etwa
1770 bis 1820 die Schablone der heutigen Entwicklungen. Schließlich wird darauf hingewiesen,
dass parallel zur Ausweitung des human security-Begriffs auch die Funktionen und
Arbeitsweisen von Polizei sich gewandelt, ja gleichsam zurückentwickelt hätten: es wird das
vormoderne Konzept und die Praxis von ‚Policey‘ angeführt, das ähnlich expansiv Schutz und
Sicherheit des einzelnen und der Gesamtheit vor einer Überfülle von Widrigkeiten, von den
Naturkatastrophen bis zum Kleiderordnungsverstoß umfasst habe.

Vielleicht handelt es sich bei der Rede von der ‚Wiederkehr‘ vormoderner entgrenzter
Sicherheitsvorstellungen nur um eine zu wenig reflektierte metaphorische Rede, vielleicht sind
die vormodernen und die post- oder spätmodernen Phänomene nur isomorph, aber keineswegs
homolog. Trotzdem fordern diese dramatischen Verschiebungen der Grenzen von Sicherheit
und der Grenzen von Epochen in der aktuellen internationalen Politikdebatte uns Historiker
heraus, erneut auf breiter Basis und die Probleme der Gegenwart im Blick über die ‚Grenzen
von Sicherheit‘ in der Geschichte nachzudenken. Man darf sich hierbei nicht nur auf staatliche
Sicherheitsformen konzentrieren, denn gerade die Frage, welcher Akteur welche Sicherheit zu
garantieren imstande ist oder garantieren soll, ist Teil des historischen Aushandlungsprozesses
über die Grenzen von Sicherheit. So führt die aktuelle Debatte in gewisser Hinsicht zu Lucien
Febvres Frage nach einer umfassenden Sicherheitsgeschichte zurück, 1954 als Frage nach
dem ‚sentiment de sécurité‘ formuliert, aber kaum von den historischen Wissenschaften
umfassend aufgenommen. Im Fokus dieser Sektion soll dabei gerade die Frage nach dem
Verhältnis von Sicherheitsgrenzen zu Epochengrenzen stehen.

Als Referenten haben Spezialisten für historische Konflikt- und Sicherheitsforschung
vom Frühmittelalter bis zur Zeitgeschichte zugesagt, der Sektionsleiter hat zum Problem der
Sicherheitsproduktion angesichts von Naturkatastrophen sein zweites Buchmanuskript gerade
fertiggestellt. Die Sektion wird vorbereitet durch eine aus den Mitteln des DFG-Projekts
‚Risikozähmung in der Vormoderne‘ des Sektionsleiters finanzierten Tagung ‚The Production of
Human Security in Premodern and Contemporary History’ (8.-10. April 2010, Bochum, vgl. CfP
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=12156, bzw.
http://www.rub.de/umweltgeschichte/forschung.html). Mit Herrn Daase konnt einer der
führenden internationalen Politikwissenschaftler auf dem Feld der security-Forschung als
Kommentator gewonnen werden, so dass nicht nur wir Historiker über das historische Narrativ
in den Sozial- und Politikwissenschaften reflektieren, sondern unsere – sicher oft kritischen
Anfragen – eine interdisziplinäre Rückspiegelung erfahren werden. Die thematische Idee wurde
inzwischen auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft ‚Frühe Neuzeit‘ im Historikerverband in
Aachen dieses Jahres aufgegriffen und stellt das Thema des Frühneuzeithistorikertags 2011
dar.

Vorträge Epoche
Human security und fragile Staatlichkeit im Frühmittelalter Epochenübergreifende Sektion
Sicherheit als Privileg. Möglichkeiten und Grenzen der Sicherheitspolitik Epochenübergreifende Sektion
Naturkatastrophen um die Jahre 1300, 1700 und 2000 Epochenübergreifende Sektion
Staatliche Sicherheit und staatliches Gewaltmonopol im 19. und 20. Jahrhundert Epochenübergreifende Sektion
Securitization: Gegenwartsdiagnose oder Prozess der ‚longue durée‘? Epochenübergreifende Sektion