Die Technisierung der Ernährung und die Grenzen des „Natürlichen“. Beiträge zur Technikgeschichte der Ernährung vom ausgehenden 19. bis ins 21. Jahrhundert

(30. September 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.308)

Leitung: Dr. Helga Satzinger, London


1. Kommentar

Referent/in: Dr. Helga Satzinger, London


2. Von der klassischen Pflanzenzüchtung zur grünen Gentechnik. Transformationen des biopolitischen Raums

Referent/in: Dr. Thomas Wieland, München


3. Grenzenlose Machbarkeit und unbegrenzte Haltbarkeit? Das „friedliche Atom“ im Dienst der Land- und Ernährungswirtschaft

Referent/in: Prof. Dr. Karin Zachmann, München


4. Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Eiweißpräparate und Lebensmittelsurrogate im späten Kaiserreich

Referent/in: PD Dr. Uwe Spiekermann, Washington


5. Have Your Cake and Eat it too: Visions of Techno-Nature in the Marketing of NutraSweet

Referent/in: Prof. Dr. Carolyn de la Peña, Davis


6. Substitut – Imitat – Surrogat: Soft Drink- Innovationen im Nationalsozialismus und in der DDR

Referent/in: Dr. Uwe Fraunholz, Dresden



Abstract

Die Umgestaltung der Ernährungssysteme ist ein wesentlicher Bestandteil des technischen, sozialen und kulturellen Wandels in der Moderne. In ihr manifestieren sich eine historische Neuordnung unserer Vorstellungen von Natur sowie eine ebenso grundlegende Neubestimmung unseres Verhältnisses zum Körper. Die wichtigsten Indikatoren für den Umbau der Ernährungssysteme sind die Überwindung der letzten Hungersnöte klassischen Typs in Europa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sowie der Anstieg der durchschnittlichen Körpergröße und der Lebenserwartung als Ausdruck dafür, dass die mit der Überwindung der malthusianischen Falle eingeleitete Abkehr vom Knappheitsregime alle Bevölkerungsgruppen in der nordatlantischen Welt erreicht hat. 

Ernährung ist in den letzten ca. 30 Jahren zu einem boomenden Gegenstand für die historische Forschung geworden. Im deutschsprachigen Kontext war es vor allem die Stadtgeschichte, die das neue Forschungsgebiet zuerst erschlossen hat. Die Herausforderung des Themas Ernährung liegt dabei im Grenzcharakter des Gebietes. Essen reproduziert den Körper als biologischen Organismus und (re)konstituiert das Individuum als soziales Subjekt. In Geschichten der Ernährung und des Essens werden moderne Denkmuster der Dichotomisierung von Natur und Kultur obsolet. Auch strikte Grenzziehungen zwischen Stadt und Land, Industrie und Landwirtschaft, Produktion und Konsum oder die Einteilungen in Organisches und Mechanisches sowie in Gewordenes und Gemachtes sind in diesem Forschungsfeld nicht als Polaritäten, sondern im Sinne von komplementären Verhältnissen zu untersuchen. Damit hat die Ernährungsgeschichte das Potential, viele historische Teildisziplinen zu verknüpfen. 

In dieser Sektion wird aufgezeigt, wie technologische, institutionelle und organisatorische Innovationen im Agrar- und Ernährungsbereich die Logik des Industriesystems zur Geltung brachten. Die Innovatoren waren dabei stets  mit der Grenze des „Natürlichen“ konfrontiert, die sich in der biologischen Unbestimmtheit organischer Entwicklung, der Bindung an konkrete meteorologische Verhältnisse und der Verderblichkeit der Produkte als für den Agrar- und Ernährungsbereich typische Herstellungs- und Verwendungsbedingungen fühlbar machten. Daher wird hier der Frage nachgegangen, wie versucht wurde, diese „natürliche“ Begrenzung der Handlungsspielräume im Agrar- und Ernährungsbereich technologisch zu überwinden. Eine große Rolle spielte dabei die fortschreitende räumliche Entkoppelung von Herstellung und Verbrauch, die als wichtiges Element der von Giddens analysierten raumzeitlichen Abstandsvergrößerung und damit als ein Kernprozess der Moderne  zu begreifen ist. Sie ging mit der Aufwertung von Vermittlungsprozessen und Zwischenstufen wie der Lebensmittelverarbeitung und –verpackung sowie dem Lebensmittelmarketing und dem Einzelhandel einher. Es wird zu zeigen sein, inwieweit diese Gebiete zu Anwendungsfeldern von Hochtechnologien wie Synthesechemie, Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnik, Kerntechnik, Kältetechnik usw. wurden und so dazu beitrugen, „natürliche“ Prozesse des Entstehens und Vergehens in immer komplexere technische Systeme einzuspannen und den Vorgang des Essens mit neuen Bedeutungen aufzuladen. Das schließt eine Analyse der Ernährung als Kommunikationssystem ein, denn die alimentäre Kommunikation beruht ganz wesentlich auf der maßgeblich mit Hilfe der Technik erzeugten bzw. verstärkten bedeutungsgebenden Differenzierung der Speisen.

Die moderne Technikgeschichte begreift Konsumenten als Ko-Produzenten von Technik. Von besonderem Interesse ist daher auch die Frage, ob die in der Logik der industriellen Moderne liegende Technisierung der menschlichen Ernährung an der „consumption junction“ zuweilen an ihre Grenzen stieß. Inwieweit hat der Umbau der Ernährungssysteme zu einer Neuverortung der Verbraucher und ihrer Entscheidungsspielräume geführt, die wiederum konstitutiv für die politische Ordnung in der spätmodernen Gesellschaft wurden? Ernährung hat zudem eine Schlüsselfunktion für die Biopolitik des modernen Staates. Sie konstituiert die Bevölkerung als Subjekt von Bedürfnissen und als Objekt der Regierung. Mit Hilfe des in der Ernährungswissenschaft und der Sozialhygiene kodifizierten Wissens setzt der moderne Staat seine Bürger/innen in die Lage, rationale Entscheidungen treffen zu können. Auf dieser Basis werden das Vergnügen und die Lust am Essen in einen ethischen Verhaltenskodex eingefügt. Ausgehend von diesen Vorannahmen ist auch zu untersuchen, wie im Zusammenwirken von Wissen und Macht moderne Konsumenten geformt werden, die nach dem Übergang vom Knappheits- zum Wohlstandsregime selbstbewusste und reflektierte Entscheidungen zur Ernährung trafen, welche zentral für die Entfaltung moderner Konsumgesellschaften wurden.

Vorträge Epoche
Von der klassischen Pflanzenzüchtung zur grünen Gentechnik Neuere/Neueste Geschichte
Grenzenlose Machbarkeit und unbegrenzte Haltbarkeit? Neuere/Neueste Geschichte
Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Eiweißpräparate und Lebensmittelsurrogate Neuere/Neueste Geschichte
Have Your Cake and Eat it too: Visions of Techno-Nature in the Marketing of NutraSweet Neuere/Neueste Geschichte
Substitut – Imitat – Surrogat: Soft Drink- Innovationen im Nationalsozialismus und in der DDR Neuere/Neueste Geschichte