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Vortragstitel:
Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Eiweißpräparate und Lebensmittelsurrogate
Tag:
30.09.2010
Epoche:
Neuere/Neueste Geschichte
Sektion:
Die Technisierung der Ernährung und die Grenzen des „Natürlichen“

Abstract:

Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Eiweißpräparate und Lebensmittelsurrogate im späten Kaiserreich

Referent/in: Uwe Spiekermann, Washington


Abstract

Die Modernität des späten Kaiserreichs spiegelt sich in zahlreichen Versuchen, die tradierte tägliche Kost durch eine neue wissenschaftsbasierte künstliche Kost zu ergänzen und langfristig gar zu ersetzen. Die seit den 1880er Jahren zunehmend erfolgte Ausdifferenzierung der Nahrungsstoffe, insbesondere das kleinteiligere Wissen um die Binnenstruktur der Eiweiße und Kohlehydrate, erlaubte eine bisher unbekannte Plan- und Gestaltbarkeit der Nahrungsmittel. Nicht nur Wissenschaftler prognostizierten, dass die Küche der Hausfrau mehr und mehr durch das Laboratorium der neuzeitlichen Chemie ersetzt werden würde. In der Öffentlichkeit fanden die zahlreichen Verfahren synthetischer Lebensmittelproduktion breite Resonanz: August Bebels Vision einer „Dose mit Chemikalien in der Tasche“, aus der jedermann sein Nahrungsbedürfnis preiswert und unabhängig von der Natur befriedigen können, war beredtes Beispiel einer vielschichtigen Debatte über eine wissenschafts- und technikbasierte Neugestaltung der Alltagskost.

Vorreiter und Träger dieser Bewegung waren zahlreiche Unternehmen, deren Produktinnovationen neue Maßstäbe setzten. Ausgehend von fortifizierten Produkten und industriell  fabrizierten Surrogaten begannen seit Mitte der 1880er kleinere und mittlere Anbieter Nährmittel aus preiswerten Reststoffen der Getreide- und Fleischwirtschaft zu entwickeln und als Markenartikel anzubieten. Dieser Trend wurde in den 1890er Jahren von den aufstrebenden Pharmazie-Unternehmen verstärkt, die Stärkungs- und Kräftigungsmittel für einen nationalen Massenmarkt anboten. Parallel begannen schließlich Spezialanbieter preiswerte Eiweißpräparate mit immensem Reklameaufwand zu vertreiben, um mit deren Hilfe die Alltagskost aller preiswerter und rationaler zu gestalten – und mittelfristig die tradierte Kost zu ersetzen. Die neuen Produkte scheiterten einerseits am Geschmack, anderseits an den zu hohen Kosten und den technischen Problemen elaborierter Synthetisierungen – auch wenn sie als Nischenprodukte die Diätetik grundlegend veränderten.

Das Beispiel der Eiweißpräparate erlaubt eine fundierte Analyse der Modernisierungsvorstellungen des imperialen Bürgertums. An die Stelle „irrationaler“ und vielfach gesundheitsgefährdender Speisen und Getränke sollten wissenschaftsbasierte Produkte treten, die Gesellschaft damit auf eine neue Ebene der Bürgerlichkeit gehoben werden. Die beträchtlichen Investitionen zahlreicher Unternehmer unterstreichen den Ernst dieser Bemühungen um eine neue Kultur der Ernährung. Die insgesamt widerstrebende Rolle der Konsumenten macht aber zugleich deutlich, dass „economic citizenship“ schon während des Kaiserreichs andere pluralere Angebote erforderte, die allein durch die Ideale technischer und ökonomischer Eliten nicht mehr definiert werden konnten.