Die Darstellung von Grenzen und Grenzen ihrer Darstellung. Karten in Ostmitteleuropa als Medium von Geschichtskultur und Geschichtspolitik

(01. Oktober 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.308)

Leitung: Prof. Dr. Peter Haslinger, Marburg/Gießen / Prof. Dr. Vadim Oswalt, Gießen



1. Moderation: Prof. Dr. Vadim Oswalt, Gießen


2. Raumkonzepte, Wissenstransfer und die Karte als Medium von Geschichtskultur und Geschichtspolitik

Referent/in: Prof. Dr. Peter Haslinger, Marburg/Gießen / Prof. Dr. Vadim Oswalt, Gießen


3. Gewinn durch Verlust und Verlust durch Gewinn – Wie wirklich ist die „Wirklichkeit? im Medium der Karte?

Referent/in: Dr. Ute Wardenga, Leipzig


4. Ikonographien des Raumbilds Ukraine: Eine europäische Wissenstransfergeschichte

Referent/in: Dr. Veronika Wendland, Marburg


5. Grenzen in ostmitteleuropäischen konventionellen und digitalen Geschichtskarten

Referent/in: Sebastian Bode M.A., Gießen / Mathias Renz, Gießen


6. Die umkämpfte Stadt: Die Darstellung von Vilnius/Wilno/Wilna auf Russländischen ethnographischen und litauisch nationalen Karten, 1840-1918

Referent/in: Dr. Vytautas Petronis, Marburg


7. Kommentare

Referent/in: Prof. Dr. Eckhart Fuchs, Mannheim/Braunschweig

Referent/in: Prof. Dr. Hans Dietrich Schultz, Berlin


8. Zusammenfassung

Referent/in: Prof. Dr. Peter Haslinger, Marburg/Gießen



Abstract

1. Ausgangslage

Seitdem in den 1990er Jahren erste Werke den Konstruktcharakter territorialer Einheiten herausgearbeitet haben, ist Raum nicht mehr länger nur Verortungspunkt oder Schauplatz für historische Entwicklung. Wie auch einige Beiträge auf dem Historikertag in Kiel 2004 gezeigt haben, stehen die Bedingungen der kommunikativen Produktion, Kategorisierung und Institutionalisierung von Raumverhältnissen seither im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Damit rücken das Moment der „Verräumlichung“ als ein „Set kommunikativer Praktiken, mit dem Individuen Raumbezüge herstellen und sich entsprechend orientieren,“ ebenso in den Blick wie die Vielzahl unterschiedlicher Strategien, mit denen historische Akteure im und über Raum kommunizieren und durch diese Praktiken neue räumliche Bezüge herstellen, ja mitunter gänzlich neue Raummuster entwerfen und popularisieren. Die Konsequenzen dieser Neubewertung von Territorialität für die historische Forschung sind jedoch nach wie vor umstritten: In der Frage, ob von einem spatial oder topographical turn gesprochen und ob raumbasierten Erklärungsmustern eine umfassende Erklärungskompetenz zugeschrieben werden können, überwiegen mittlerweile zurückhaltende Bewertungen.

Vor diesem Hintergrund bilden die vielfältigen Aspekte der Produktion und des Einsatzes von Karten in Ostmitteleuropa ein spannendes und in Teilen noch unerschlossenes Forschungsfeld, das darüber hinaus durch ein besonderes Maß an Pluriperspektivität und Interdisziplinarität gekennzeichnet ist: Einfluss hatte hier zum einen die dekonstruktivistische Perspektive vor allem angelsächsischer Geographen, die die „Scheinobjektivität“ der Karte in vielfältiger Weise demonstriert und ihre Referentialität allein auf den Kartenredakteur zurückführt.

Zweitens ist die Diskussion um mental maps zu nennen, die Wirkungsweisen räumlicher Konzepte auf individuelle und kollektive Identitäten und Handlungsmuster beschreibt. Gerade an Beispielen Historischer Karten ist bisher auch das dialektische Wechselspiel zwischen Karte und Realität analysiert worden, ging doch der Konstruktion nationaler Räume vielfach ihre Konstruktion im Kartenbild voraus. Schließlich sind geopolitische Visionen und die mit ihnen korrespondierenden „Grenzbilder“ noch nicht vergleichend auf die vielfältigen wechselseitigen Transfers und Translationen untersucht worden. Ebenso standen die auf Wirkungsmächtigkeit hin optimierten Vermittlungsstrategien aus transdisziplinärer Perspektive bisher noch nicht im Zentrum von vergleichenden Untersuchungen.


2. Ziel der Sektion

Judith Miggelbrink sieht in Räumen nicht bloß Themen der Kommunikation, sondern ein Medium, „mit dessen Hilfe soziale Wirklichkeit strukturiert werden kann“: „Welche Repräsentationen des Raums werden entworfen und wie werden sie dekodiert? Welche Raumbilder werden in welchem kulturellen und/oder lokalen Kontext dechiffriert und welche Symbolisierungen enthalten sie? (…) Welche Raumbilder sind kommunikativ erfolgreich?”

Von diesen Schlüsselfragen ausgehend zielt die vorgeschlagene Sektion auf die Logiken von Deutungs- und Vermittlungsinstitutionen sowie auf Medien und Techniken der Visualisierung räumlichen Wissens. Im Zentrum stehen dabei „Grenzvisionen“, wobei sich die vorgeschlagene Sektion nicht nur auf Darstellungen von Grenzen im Rahmen historisch-politischer Repräsentationen von Raum beschränkt. Ihre Funktion sowohl als diskursiver Katalysator und Objekt der Vermittlung politischer Botschaften als auch als Objekt der Schnittstelle werden in dieser Sektion gleich in mehrfacher Weise thematisiert: Und zwar sowohl in transdisziplinärer (zwischen Geschichte, Geographie und ihren Didaktiken) und methodischer Hinsicht (Medien- und Visualisierungsforschung in Verknüpfung mit Wissenschaftsgeschichte und Geschichtspolitik) und schließlich auch in der Einbeziehung transnationaler Perspektiven (Komparatistik von Bildungsmedien, Wissenstransfer, Perspektiven Ostmitteleuropas).

Die Funktion von Karten als Schnittstelle zwischen Visualisierungen, Geschichtskultur und historischem Denken weiter zu erschließen, bildet daher für die Diskussion und Weiterentwicklung von Konzepten und Methoden ein wichtiges Desiderat. Denn über das Wechselverhältnis von geschichtlicher Raumdarstellung und historischer Sinnbildung existieren noch so gut wie keine Erkenntnisse. Geschichtskarten – die retrospektiv historische Ereignisse und Prozesse abbilden – spiegeln die Macht bestimmter historischer Raumkonzepte in der jeweiligen, im Kontext Ostmitteleuropas meist nationalen Geschichtskultur, in der sie entworfen und rezipiert werden. Da in der fachwissenschaftlichen Diskussion bisher kaum zwischen Historischen Karten und Geschichtskarten differenziert wird, bilden Karten als Form historischer Darstellung in der geschichtsmethodischen Diskussion geradezu einen „blinden Fleck“.10 In der Sektion werden deshalb beide Mediengattungen, sowohl Geschichtskarten als auch Histo-rische Karten, einerseits in ihren intermedialen Kontexten, andererseits in ihren unterschiedlichen Wirkungsweisen auf Geschichtskultur und Geschichtspolitik betrachtet.

Dadurch stellen sich Fragen nach den in historischer Raumdarstellung implizit enthaltenen diskursiven Mustern ebenso wie nach dem Wissens- und Methodentransfer, der sich nur durch transdisziplinäre Grenzüberschreitung zwischen Raum- und historisch-medienbezogenen Wissenschaften, namentlich der Geschichtswissenschaft, der Geographie und ihren Didaktiken, bearbeiten lassen, die in dieser Sektion sei es als Referenten wie als Kommentatoren zusammenwirken.


3. Gemeinsame Perspektiven der Einzelbeiträge

In der Sektion geschieht in mehrfacher Hinsicht eine Grenzüberschreitung: Von der Theorie zur Empirie, transdisziplinär von der Geschichte zur Geographie und zu ihren jeweiligen Fachdidaktiken, intermedial durch die Einbettung von Karten als Visualisierung in die jeweiligen politischen Diskurse und transnational im Hinblick auf Ostmitteleuropa. Raumdimensional werden hierbei unterschiedliche regionale Perspektiven geöffnet.

Zur systematischen Bündelung dieser Grenzüberschreitungen werden sich vor allem vier Perspektiven der Einzelvorträge aufeinander beziehen:

3.1. Diachrone Perspektiven: Kartenbilder entstehen selten als genuin neuartige Schöpfung. Vielmehr gründen sie in langen Prozessen, in denen sowohl intermediale Einflüsse als auch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse wirksam werden. Die Herkunft solcher, oftmals extrem persistenter Muster kann nur in der diachronen Längsschnittbetrachtung erschlossen werden.

3.2. Synchrone/transnationale Perspektiven: Geschichtskarten spielen eine zentrale Rolle in der Geschichtskultur ostmitteleuropäischer Staaten und folglich auch der Herstellung von Identitätsangeboten. Der synchrone transnationale Vergleich macht deutlich, wo sich kontroverse Geschichtsbilder in der unterschiedlichen inhaltlichen und formalen Gestaltung von Karten zeigen, wo Sachverhalte verschwiegen („silencing“) oder als historisches Unrecht kritisiert werden, indem sie in Signaturen, Farben oder der Auswahl des Raumausschnitts hervorgehoben sind. Diese Kontroversität der Raumbilder bedarf der Entsprechung in Diskursen, auf die sich solche Kartenbilder beziehen und die ihnen wiederum Sinn verleihen. Dieser Blick wird um einen weiteren Aspekt erweitert: Neue mediale Gestaltungsformen von Karten (Digitalsierung) und neue Formen ihrer Kommunikation (Internet) markieren eine mediale Umbruchssituation.

3.3. Methodische/transdisziplinäre Perspektiven: Exemplarische Beispiele, die punktuell die Fragestellung ausleuchten, machen deutlich, dass es neuer methodischer Zugangsweisen bedarf, die die Geschichtskarte als Form historischer Darstellung sui generis ins Zentrum theoretisch-methodischer wie empirischer Überlegungen rücken. Linguistische Theorien zu Mul-timodalität, Intermedialität und Semiotik müssen hier genauso einbezogen werden wie kulturwissenschaftliche Theorien zu der in Ikonisierungsprozessen inhärenten Weltbildgenerie-rung. Durch die Berücksichtigung dieser weit reichenden Theorien wird wesentlich deutlicher, in welchen Rahmen die Betrachtung der geschichtskulturellen Bedeutung von Karten von ihrer Generierung bis zu ihrer Rezeption eingebettet werden muss. Nicht zuletzt ist auch nach der intermedialen Grenze bzw. Schnittstelle zwischen Karte und historischem Text zu fragen, die eine Visualisierung mit Referenztexten verbinden.

3.4. Geschichtskulturelle/geschichtspolitische Perspektiven: Geschichtskulturelle Perspektiven ergeben sich schließlich aus der Synthese aller Betrachtungsfelder, die eine Rückbindung an Fragen des „spatial turn“ / „topographical turn“ erlauben. Hier wird die Frage nach der Nutzung räumlicher Muster in spezifischen Umgangsformen mit der Vergangenheit und nach den geschichtskulturellen Spannungsfeldern unterschiedlicher Medien und Agenten gestellt. Insgesamt muss über die Macht von Raumbildern und Medien diskutiert werden, über ihre emanzipatorische wie zementierende Wirkung auf historische Identitätsbildungsprozesse und ihre besondere Bedeutung in Phasen des politischen Umbruchs. Erst dies erweitert die Frageperspektive auf Entstehungskontexte und Modi des intentionalen Einsatzes von Karten in bestimmten Zeigesituationen.

Vorträge Epoche
Raumkonzepte, Wissenstransfer und die Karte als Medium von Geschichtskultur und Geschichtspolitik Neuere/Neueste Geschichte
Gewinn durch Verlust und Verlust durch Gewinn Neuere/Neueste Geschichte
Ikonographien des Raumbilds Ukraine: Eine europäische Wissenstransfergeschichte Neuere/Neueste Geschichte
Grenzen in ostmitteleuropäischen konventionellen und digitalen Geschichtskarten Neuere/Neueste Geschichte
Die umkämpfte Stadt: Die Darstellung von Vilnius/Wilno/Wilna Neuere/Neueste Geschichte