Entgrenzung und Begrenzung der Gewalt: Annäherungen an eine Morphologie tödlicher Zonen im Europa des 20. Jahrhunderts

(01. Oktober 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.101)

Leitung: Prof. Dr. Jörg Baberowski, Berlin



1. Sklavenarbeit in der Todeszone: Die Be- und Entgrenzung von Gewalt in KZ-Außenlagern

Referent/in: Dr. Marc Buggeln, Berlin


2. Zonierungen von Krieg und Massengewalt im Unabhängigen Staat Kroatien, 1941–1945

Referent/in: Alexander Korb M.A., Leicester


3. Tödliche Zonen ohne Grenzen? Russland im Bürgerkrieg, 1917–1921

Referent/in: Dr. Felix Schnell, Berlin


4. Kommentar

Referent/in: Prof. Dr. Birthe Kundrus, Hamburg


Abstract

Unter „tödlichen Zonen“ verstehen wir soziale Räume, in denen die Interaktion zwischen Individuen, Gruppen oder Gemeinschaften von physischer Gewalt geprägt ist. Grundsätzlich bedeutet die Gewalt hier eine ubiquitäre Bedrohung, doch zugleich auch eine Chance. Wer Gewalt ausgeübt, begibt sich gleichsam in Gefahr, diese zu erleiden. Doch sind Gefahren und Chancen in solchen Räumen sehr unterschiedlich verteilt. Im Grenzfall, etwa in einem KZ, können die Machtverhältnisse Gefahren oder Chancen für einzelne Individuen oder Gruppen buchstäblich zum Verschwinden bringen und zu einer extremen Machtasymmetrie führen. In einer Bürgerkriegssituation hingegen sind die Möglichkeiten zur Gewaltausübung in der Regel gleichmäßiger verteilt. 

Ob tödliche Zonen künstlich geschaffen werden oder aus krisenhaften Situationen entstehen – gewaltsames Handeln ist in beiden Fällen für sie konstitutiv. Tödliche Zonen sind durch die reziproke Wechselwirkung von sozialem Handeln und Handlungsbedingungen bestimmt, Handeln ist hier sowohl strukturbedingt als auch strukturschaffend. Das voluntaristische Element ist dabei gering, da Gewalt in tödlichen Zonen tendenziell alternativlos ist. Ihre Reproduktion ist daher in der Regel schon die Folge davon, dass sich Einzelne oder Gemeinschaften „nur“ zu den Bedingungen der tödlichen Zone verhalten. Zu ihrer Verstetigung trägt bei, dass Gewalt eher Gegengewalt als gewaltlose Interaktion hervorbringt.

Die Teilnehmer des Panels interessieren sich im Wesentlichen für zwei zentrale Aspekte: erstens für soziale Vergemeinschaftungen, die in tödlichen Zonen entstehen, sie einerseits reproduzieren, andererseits aber die Überlebenschancen ihrer Mitglieder erhöhen; zweitens für den Zusammenhang von Grenzen und der Be-, beziehungsweise Entgrenzung von Gewalt in tödlichen Zonen. Es geht dabei um Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten sehr unterschiedlicher, oberflächlich betrachtet vielleicht sogar „unvergleichbarer“ Beispiele aus dem Bereich des Nationalsozialismus, der südost- und osteuropäischen Geschichte.

Tödliche Zonen haben Außen- und Binnengrenzen. Diese Grenzen müssen nicht physischer Natur sein und werden immer nur durch soziales Handeln wirksam. Die Kerkertür muss geschlossen, der Lagerzaun bewacht oder eine bewaffnete und gewaltbereite Gruppe in einem Gebiet präsent sein. Anzunehmen ist, dass Grenzen von und Grenzen in tödlichen Zonen dialektischen Charakter haben, da jede Grenze das Andere miteinschließt. Sie können daher sowohl Orte der Entgrenzung als auch der Begrenzung von Gewalt sein. Hier soll in den Einzelbeiträgen insbesondere nach den Eskalationspotentialen, aber auch nach den Begrenzungseffekten von Grenzen sowie nach den „normativen Grenzen“ der Gewalt in tödlichen Zonen gefragt werden. 

Tödliche Zonen bringen ihre eigenen sozialen Ordnungen hervor. Normalerweise stellen sie einen Bruch zu vorherigen Verhältnissen dar. Doch auch die Verstärkung oder Radikalisierung bestehender Machtverhältnisse kann sich in tödlichen Zonen vollziehen. Man kann vermuten, dass soziale Ordnungen und Vergemeinschaftungen hier in der Regel dem Primat der Einfachheit und Effektivität gehorchen und Formen geringer Komplexität begünstigen, die nach dem Führer-Gefolgschaftsprinzip aufgebaut sind. Das Panel wird der Frage nachgehen, ob es sich hier um ein gemeinsames Strukturelement tödlicher Zonen handelt, und welche Unterschiede es in den Vergemeinschaftungsformen gibt.

Vorträge Epoche
Sklavenarbeit in der Todeszone: Die Be- und Entgrenzung von Gewalt in KZ-Außenlagern Neuere/Neueste Geschichte
Zonierungen von Krieg und Massengewalt im Unabhängigen Staat Kroatien, 1941–1945 Neuere/Neueste Geschichte
Tödliche Zonen ohne Grenzen? Russland im Bürgerkrieg, 1917–1921 Neuere/Neueste Geschichte