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Vortragstitel:
Tödliche Zonen ohne Grenzen? Russland im Bürgerkrieg, 1917–1921
Tag:
01.10.2010
Epoche:
Neuere/Neueste Geschichte
Sektion:
Entgrenzung und Begrenzung der Gewalt

Abstract:

Tödliche Zonen ohne Grenzen? Russland im Bürgerkrieg, 1917–1921

Referent/in: Felix Schnell, Berlin


Abstract

Staatsferne war eine Grundbedingung staatlicher Herrschaft im Zarenreich. Keine der vielen kleineren oder größeren Reformen konnte bis 1917 etwas daran ändern, dass „das Land weit und der Zar fern“ war und ein Gewaltmonopol des Staates auf dem Lande nur als Anspruch existierte. In der Praxis war Gewalt lokal verregelt – Staatsgewalt trat nur sporadisch, intensiv und demonstrativ auf. Diese Umstände erleichterte es den Dörfern im Jahre 1917, den Fortfall der zarischen Obrigkeit durch eigene Herrschaftsstrukturen zu kompensieren. Sie ermöglichten auch, Chaos bei der „Schwarzen Umverteilung“ des Adelslandes zu verhindern und sie in einem hohen Maße organisiert durchzuführen. Sie waren schließlich die Voraussetzung für eine Abwehr äußerer Eingriffsversuche durch die Bolschewiki, aber auch anderer Bürgerkriegsparteien. 

Der Südwesten des ehemaligen Imperiums, in etwa das Gebiet der heutigen Ukraine, war eines der Hauptkampfgebiete des Russischen Bürgerkrieges. Frontlinien waren kaum auszumachen, allenfalls Kampfzonen. Hier vermochten weder „Weiße“ noch „Rote“ dauerhaft territoriale Hegemonie auszuüben. Die Macht lag meist bei kleineren Kampfgruppen, die von Atamanen geführt in einer Region operierten, oder auch bei Banden oder einzelnen Dörfern. Für alle Akteure in diesen Räumen galt, dass Gewalt ubiquitäre Bedrohung, aber auch Chance war. Nur durch die Fähigkeit, sich gegen andere gewaltsam behaupten zu können, waren eigene Interessen zu wahren oder sogar die Existenz zu sichern. 

Gewaltexzesse, für die der Russische Bürgerkrieg notorisch ist, sind unmittelbar auf die extremen Bedingungen in solchen tödlichen Zonen zurückzuführen. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die scheinbare Grenzenlosigkeit. Die Machtsphären einzelner bewaffneter Gruppen waren kaum sicht- oder spürbar voneinander abgegrenzt. Sicht- oder spürbar war immer nur das konkrete Auftreten bestimmter Kriegsparteien. Somit scheinen auch Entgrenzung der Gewalt und Grenzenlosigkeit der Machtsphären im Russischen Bürgerkrieg in einem engen Zusammenhang zu stehen. Diesen Aspekt wird der Beitrag weiter ausführen und an konkreten Beispielen aufzeigen.