Grenzüberschreitungen an imperialen Randzonen. Biographische Zugänge zum transkulturellen Austausch

(01. Oktober 2010 - 15.15 bis 18 Uhr - HS 1.103)

Leitung: Prof. Dr. Dittmar Dahlmann, Bonn / Prof. Dr. Stig Förster, Bern

 


1. James Achilles Kirkpatrick – Eine Liebesziehung und die prekäre britische Herrschaft in Indien

Referent/in: Prof. Dr. Stig Förster, Bern


2. James Brooke – Vom Abenteurer zum Raja von Sawarak

Referent/in: Dr. Benedikt Stuchtey, London


3. Emin Pascha – Ein Europäer als Administrator im Sudan

Referent/in: Dr. Tanja Bührer, Bern


4. Baron Robert Ungern-Sternberg – Ein russischer Offizier als Erbe Tschingis Khans

Referent/in: Prof. Dr. Dittmar Dahlmann, Bonn



Abstract

Die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Globalisierungsprozesse haben den modernen Nationalstaat in Frage gestellt. Das Präfix „post“ wird nun als der Ausdruck des Zeitgeists gehandelt. Es signalisiert nicht nur die Überwindung nationaler Narrative, sondern auch binärer Denkkategorien und verweist stattdessen auf die jenseits davon liegenden Zwischenräume als innovative Schauplätze der Kommunikation und Kooperation, wo Identitäten entstehen und kulturelle Werte verhandelt werden. Solche Zwischenräume sind keine neuartigen Phänomene der Postmoderne mit ihren globalen Transfers und multikulturellen Gesellschaften. Sie hatten sich beispielsweise stets auch während des Epochen übergreifenden Prozesses der europäischen Expansion aufgetan, insbesondere an den fluiden Randzonen.

Zwar haben sich Begegnungen in imperialistischen Einflusssphären selten über längere Zeit als herrschaftsfreie Kontakte gestaltet. Said sieht im realitätsprägenden westlichen Diskurs über den Anderen sogar einen elitären Monolog und hält den „Westen“ seinem Wesen nach für unfähig, andere Kulturen authentisch wahrzunehmen. Der radikale erkenntnistheoretische Skeptizismus und der postmoderne Dekonstruktivismus mögen letztlich theoretisch nicht widerlegbar sein – aber in der Praxis der Geschichte. Es widerspricht Osterhammel zufolge jeder historischen Kenntnis, dass die europäische Expansion unter kulturellem Autismus vonstatten gegangen sein soll. Bei den Übermittlungsleistungen spielten Intermediäre, die darauf spezialisiert waren, Interessen zu vermitteln und kulturelle Codes zu übersetzen, stets eine zentrale Rolle. Nach den in den letzten Jahren zahlreich erschienenen diskurstheoretischen Analysen zu subjektlosen Repräsentationen von Alterität, zielt der gegenwärtige Forschungstrend daher verstärkt auf die konkreten institutionellen sowie personellen Träger und Kommunikationsnetzwerke transkultureller Beziehungen sowie transnationalen Wissens. Während Robinson, der bereits in den 1970er Jahren für die britische Expansion eine strukturelle Kontinuität der „Kollaboration“ festgestellt hatte, sich noch auf die Politik der indigenen Mittelsmänner beschränkte, sind nun weiter ausdifferenziertere Sichtweisen auf die cultural brokers verschiedenster Herkunft und ihre multiplen Identitäten gefragt.

Die hier zu unterbreitende Sektion fokussiert sich auf spezifische Gestalten von Intermediären, die, ganz im Sinne des Tagungsthemas, als „Grenzüberschreiter“ bezeichnet werden können. Konkret sollen Akteure europäischer Herkunft untersucht werden, die damit beauftragt waren, an imperialen Randgebieten in einer Sondermission die Interessen der Metropolen zu vertreten, in denen sie als relativ isolierte Minderheiten agierten. Es konnte sich sogar um fluide Sphären handeln, in denen sich gemäß lokaler Tradition politische Herrschaft nicht mit territorialstaatlicher Hoheit deckten und die auch noch nicht durch kolonialstaatliche Grenzlinien räumlich und politisch fixiert sowie kulturell homogenisiert waren. Damit soll nicht so sehr der frontier-Begriff als eine sich durch Vorrücken von Siedlern und Militärs stetig vorschiebende Grenze angesprochen werden, sondern eben vielmehr ein Zwischenraum im oben beschriebenen Sinne, in den unsere Protagonisten hinein gestellt wurden.

Konkret wird untersucht werden, ob sie die nationalen Interessen des Auftragsgebers konsequent verfolgten, oder ob sie sich zu Kollaborateuren indigener Interessengruppen entwickelten oder sogar dazu übergingen, sich eine eigene Herrschaftssphäre herauszubilden. Dabei soll stets die Frage nach den damit korrelierenden Prozessen der Akkulturation sowie der Identitätsbildung gestellt werden. Inwieweit wurden kulturell-symbolische Verhaltensweisen adaptiert und konnte von einer, eventuell sogar familiären Vernetzung mit der lokalen Bevölkerung die Rede sein? Haben die Akteure im transkulturellen Zwischenraum neue Identitäten herausgebildet? Wurde ein „kultureller Überläufer“ notwendigerweise auch zum „politischen Überläufer“? Waren sie eher als Entdecker oder Eroberer zu bezeichnen? Wie wurden sie von der indigenen Bevölkerung wahrgenommen? Verletzten sie auch nach jahrelanger Akkulturation immer noch unbewusst kulturelle Codes? Handelte es sich um Persönlichkeiten, die in ihrer heimischen Sozialisation Schwierigkeiten hatten, die sich der disziplinierenden Kontrolle, der homogenen Kultur und Identitätsbildung entziehen wollten und sich jenseits der Grenzen des Nationalstaates mehr Handlungsspielraum erhofften? Fanden sie sich, sofern sie von ihrer Sondermission zurückkehrten, in den heimischen Verhältnissen zurecht? 

Die Sektion zielt letztlich auf eine Annäherung an die Figur des interkulturellen Grenzüberschreiters, indem exemplarische Lebensläufe nonkonformistischer Persönlichkeiten rekonstruiert werden. Es geht also um ein Phänomen, das in der Geschichte wiederholt in Erscheinung getreten ist. Zwei Beispiele aus der Zeit des Ersten Weltkrieges mögen die Stoßrichtung illustrieren:

1. Berühmt geworden ist T. E. Lawrence („Lawrence of Arabia“), der als britischer Offizier im Verlauf des Ersten Weltkrieges auf die Arabische Halbinsel reiste und dort den großen Aufstand gegen die osmanische Herrschaft zu organisieren half. Lawrence blieb zwar seinem Heimatland gegenüber loyal und befolgte in der Regel die Befehle seiner Vorgesetzten. Doch er passte sich in hohem Maße seiner arabischen Umgebung an und ging zeitweise in ihr auf. Damit geriet er gefährlich dem nahe, was britische Offiziere und Beamte in Übersee „going native“ nannten.Während der Pariser Friedenskonferenz trat er sogar als Berater von Prinz Faisal auf und unterstützte damit die „arabische Sache“ durchaus auch gegen die Interessen seiner eigenen Regierung. 

2. Ein anderer bekannter Fall ist der des preußischen Generalfedmarschalls Colmar Freiherr von der Goltz Pascha. Goltz war in den 1880er und 1890er Jahren für lange Zeit als Militärberater von der preußischen Armee dem osmanischen Sultan zur Verfügung gestellt worden. Dabei diente er offiziell als hoher Offizier in der osmanischen Armee. Zwar vertrat er letztlich immer noch die Interessen seines Landes, doch seine Akkulturation und sein Engagement in der osmanischen Innenpolitik nahmen erhebliche Ausmaße an. Er kehrte schließlich ins Deutsche Reich zurück, um dort eine glänzende Karriere zu machen, aber die Verbindung zum Osmanischen Reich riss nicht ab. Ja, er galt in Berlin und Königsberg mit seinen türkischen Reminiszenzen als eine Art Exot. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging er dann auf Wunsch der jungtürkischen Regierung zurück ins Osmanische Reich und übernahm eine der höchsten militärischen Kommandostellen. Zwar blieb er deutscher Patriot, doch seine Verbundenheit mit den Jungtürken ging soweit, dass er den Völkermord an den Armeniern billigte.

Bei diesen beiden Personen handelte es sich in jeder Hinsicht um Grenzgänger, welche mehr als eine Loyalität enwickelten. Genau dies soll in der vorgeschlagenen Sektion interessieren: Grenzgänger als Mittler, Menschen mit geteilten Loyalitäten, die im Heimatland zu Exoten werden und im Gastland zunehmend Akzeptanz finden, weil sie zur Überraschung der Indigenen bereit waren, in ihre neue Umgebung sozial, kulturell und politisch einzutauchen. Dabei traten sie eben nicht als rabbiate und ignorante Vertreter europäischer Interessen auf, sondern als Grenzgänger, die sich um ein Verstehen der einheimischen Verhältnisse bemühten. Auf diesem Wege trugen sie erheblich zur Schaffung eines Kooperationsverhältnisses bei, welches seit Jahrhunderten eine wesentliche Grundlage für die europäische Expansion darstellte. Die historische Forschung hat die Bedeutung dieser Grenzgänger für die Geschichte des europäischen Imperialismus bislang weitgehend unterschätzt und sie allzu häufig als Skurrilitäten abgetan. Dabei wäre ohne die Rolle der Grenzgänger die Entwicklung gemeinsamer Interessen zwischen expandierenden europäischen Mächten und indigenen Eliten sehr viel schwieriger zu erreichen gewesen.

Die vorgeschlagene Sektion möchte sich nun nicht auf die oben erwähnten, recht bekannten Fälle konzentrieren. Stattdessen sollen vergleichweise weniger bekannte, aber dafür umso signifikantere Beispiele präsentiert werden. All diesen Fällen ist gemein, dass sie mehr oder weniger erfolgreich den Prozeß der Vernetzung zwischen der europäischen/westlichen Expansion und indigenen Strukturen auf dem Wege transkulturellen Austausches beförderten. Dabei kann es nicht nur darum gehen, interessante Einzelfälle zu präsentieren, sondern letztlich soll der Versuch unternommen werden, die struktruelle Bedeutung der interkulturellen Grenzgänger im Prozess der europäisch/westlichen Expansion und damit die Grundlagen für  die Herausbildung der Globalisierung in der Moderne herauszuarbeiten.

Vorträge Epoche
James Achilles Kirkpatrick – Eine Liebesziehung und die prekäre britische Herrschaft in Indien Neuere/Neueste Geschichte
James Brooke – Vom Abenteurer zum Raja von Sawarak Neuere/Neueste Geschichte
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