Territoriale Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen: Eine transnationale Geschichte Europas

(01. Oktober 2010 - 15.15 bis 18 Uhr - HS 1.101)

Leitung: Prof. Dr. Matthias Middell, Leipzig



1. Moderation

Prof. Dr. Hartmut Kaelble, Berlin


2. Territorialisierung und Entterritorialisierung in Europa im Zeitalter der Französischen Revolution

Referent/in: Prof. Dr. Matthias Middell, Leipzig


3. Europa in der zweiten Globalisierungswelle: Entterritorialisierung und Grenzziehung 1970–2010

Referent/in: Prof. Dr. Michael Geyer, Chicago


4. Die Transnationalität Europas in der Europa- und in der Weltgeschichtsschreibung der letzten Dekaden – einige historiographiegeschichtliche Beobachtungen

Referent/in: Katja Naumann, Leipzig / Steffi Marung, Leipzig


5. Kommentar

Referent/in: Prof. Dr. Michael Mann, Berlin



Abstract

Territoriale Grenzen markieren gesellschaftliche und politische Ordnungsräume. Grenzen bieten aber immer auch Durchgänge und Übergange. Nicht zuletzt werden sie regelmäßig um- und hintergangen, wenn sie nicht zum Gegenstand von Auseinandersetzungen werden. Mit Grenzziehungen werden Ansprüche auf Kontrolle und Entscheidungsgewalt erhoben und durchgesetzt. Grenzüberschreitungen hingegen schaffen querliegende Räume sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Handelns, die gemischte oder zusammengesetzte gesellschaftliche wie politische Organisationsformen artikulieren.

Die Idee einer gemischten Verfassung, bzw. einer zusammengesetzten Staatsform ist aus der Frühneuzeit geläufig und wird gerade neuerdings wieder, oftmals unter dem reichlich verfehlten Begriff des Neo-Medievalismus, neu eingeführt. Doch für das 19. und 20. Jahrhundert wurden territoriale Grenzen und die damit verbundenen Territorialisierungsprozesse politischer Souveränität vorwiegend aus der Perspektive des Nationalstaates gedacht, sowohl in Studien, die sich konzeptionell mit politischen Verräumlichungsmustern befassen, als auch in Arbeiten, die sich aus (global)historischer Perspektive ihrer Formierung und ihrem Wandel zuwenden. Diese Gleichsetzung von Territorialität und Nationalstaatlichkeit verkürzte indes die zentrale Herausforderung, der sich Gesellschaften seit späten 18. Jahrhundert gegenüber gestellt sahen: Aus der großen revolutionäre Krise, die Europa im späten achtzehnten Jahrhundert erschütterte, erwuchs ein unhintergehbarer weltweiter Zusammenhang übergreifender Räume von Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und selbst Politik, die nationalstaatliche Territorialisierung ebenso beförderten wie gleichzeitig aufhoben. Das entscheidende Problem war in jedem Falle, eine Balance zu finden zwischen der Bewahrung von Souveränität und Autonomie – nationalen Politik/Macht- und Identitätsräumen --  einerseits und der Einbindung in globale Verflechtungs- und Interaktionsprozesse andererseits. Der Nationalstaat setzte sich in einer Situation der sich rapide beschleunigenden Expansion von inter- und transnationalen Beziehungsräumen durch. Dass es dabei (quasi ‚natürlich’) zu einer Unterordnung querliegender Räumbezüge gekommen sei, kann nicht von vorn herein angenommen werden. Territorialisierungsstrategien blieben zu keiner Zeit unangefochten. Die relative Offenheit des Nationalstaates war Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen auf einer Vielzahl von Gebieten (also nicht nur in der Wirtschaft). Ängste vor einem Verlust von Autonomie wurden immer wieder mobilisiert und drückten sich mehr und mehr in der Furcht vor einer inneren Unterwanderung durch externe soziale Mächte (von den Freimaurern zu Katholiken und Juden) aus. All das legt nahe, die Engführung von Territorialität und Souveränität auf das Nationale - die John Agnew als ‚territorial trap’ bezeichnete - zu überdenken.

In der historischen Regionalisierungs-, aber insbesondere in der Globalisierungsforschung ist dem Zusammenhang von Transnationalisierungs- und Nationalisierungsprozessen mittlerweile erhebliche Aufmerksamkeit zuteil geworden. Es hat sich zunehmend eine Sichtweise durchgesetzt, dass beide in einer dialektischen Beziehung zu einander standen und stehen und nicht getrennt voneinander gedacht werden können. Grund genug also, der scheinbar paradoxen Transnationalität von Territorialisierung und Souveränität nachzugehen und sich dabei insbesondere auf zwei Dimensionen zu konzentrieren:

Zum einen auf das Ineinandergreifen von nationalstaatlichem Ordnungsbestreben in Form territorialer Grenzziehungen sowie die beständige Überschreitung dieser Mechanismen der kontrollierenden Steuerung durch Vernetzungszusammenhänge jenseits gesetzter politischer Grenzen: Noch jeder Nationalstaat wurde von vielfältigen Austausch- und Wanderungsbewegungen von Menschen, Gütern und Ideen durchzogen.

Zum anderen auf Perioden beschleunigten Wandels, in denen sich die Territorial-Ordnungen, die sich aus einer Pluralität von Raumbezügen verfestigt und durchsetzt hatten, konflikthaft in Frage gestellte wurden, etwa der Umbruch von imperialen Strukturen hin zu nationalstaatlichen oder aber die zunehmende Herausforderung eines auf nationaler Souveränität beruhenden internationalen Systems durch transnationale Bewegungen.

Die erste Blickrichtung ermöglicht es, einer auf genetischen oder modernisierungstheoretischen Annahmen beruhenden Geschichte über die Entstehung und Durchsetzung des Nationalen eine Historisierung der Nationalstaatsbildung entgegen zu stellen, die diese als spezifische Positionierungsstrategien in weltweiten Zusammenhängen und Globalisierungsprozessen begreift und sie somit historisch einordnet, anstelle sie als den Fluchtpunkt der allgemeinen Geschichte zu postulieren. Komplementär dazu gestattet die zweite Perspektive einen diachronen Vergleich der Herausbildung neuer politischer Ordnungsmuster jeweils in Reaktion auf sich verändernde globale Bedingungsgefüge verbunden mit der Bestimmung der Bedeutung, die grenzüberschreitenden Interaktionen in der Formierung von Räumen der Souveränität zukam.

Beide Aspekte werden in dem vorgeschlagenen Panel am Beispiel der europäischen Geschichte thematisiert. Aus drei Gründen:

Erstens ist Europa jene Weltregion, in der sich Souveränität und Nationalstaatlichkeit im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert enger als anderswo mit der Transnationalisierung und in der Tat Globalisierung von Handlungsräumen verbunden haben, weshalb sich das Ineinandergreifen von Transnationalisierung und Nationalisierung besonders gut fassen lässt. 

Zweitens, lässt sich an der Verräumlichung europäischer Souveränitäten das Zusammenspiel paralleler Territorialisierungsmuster aufzeigen, denn einerseits wurde dort im Kontext des Kolonialismus die nationalstaatliche Ordnung alsbald von imperialen Ergänzungsräumen flankiert, andererseits wurden gerade in den Kolonien jene Instrumente erprobt, mit denen man versuchte, politische Souveränität auch angesichts fortschreitender weltweiter Integration aufrechtzuerhalten.

Und drittens schließlich bietet sich, wenn man Territorialität und Souveränität in Beziehung zu den globalen Zusammenhängen setzt, die Möglichkeit Europa tatsächlich zu provinzialisieren, denn einem solchen Verständnis nach ist Globalisierung kein europäisches Projekt, sondern wird Europa zu einer Antwort auf weltweite Dynamiken von Vernetzung und Integration.

Der diachrone Vergleich wird für zwei Zeitabschnitte vorgenommen, die Periode zwischen 1770 und 1820 sowie die Periode zwischen 1970 und 2010. Beides sind Perioden dramatischer Um- und Aufbrüche, in denen intensiv um neue räumliche Ordnungsmuster für Europa und für die Rolle Europas in der Welt gerungen wurden. Dass die erste Periode so gewaltsam und die zweite Periode so relativ friedlich war, bleibt zu beachten und herauszustreichen. Aber was zählt, ist der Umstand, dass in diesen beiden Phasen die Grundelemente einer neuen, europäischen Raumordnung artikuliert und institutionalisiert wurden. Die Zukunft der ersten, aus den Kriegen der französischen Revolution geborenen Raumordnung liegt inzwischen hinter uns. Die Zukunft der nach 1970 im Entstehen begriffenen Raumordnung liegt natürlich noch vor uns. Aber dennoch können wir schon jetzt beide Perioden als Transitionsphasen im Aufbruch zu einer neuen Ordnung charakterisieren. (Deshalb überspringen wir auch die Phase des Hochimperialismus: Wir sind in diesem Panel weniger an der Schürzung der inneren Widersprüche einer gegebenen, wenn auch in rapider Entwicklung befindlichen Raumordnung interessiert, als an Momenten des Umbruch, in denen eine neue Ordnung entstand bzw. entsteht.)

Das Anliegen des Panels besteht folglich im Nachzeichnen und der Reflektion der Verbindung von Grenzziehung und Grenzüberschreitung in kritischen Phasen der Organisation einer europäischen Raumordnung. Die übergreifenden Thesen der Sektion lassen sich knapp so zusammenfassen: (1) Die Perioden 1770-1820 und 1970-2010 sind Phasen einer krisenhaften Neuordnung europäischer Ordnungszusammenhänge. (2) Beides zusammen, die Einbettung nationaler Geschichte in sub- und supranationale Verbund- und Austauschsysteme innerhalb Europas sowie die Verortung der Region in hemispherischen Verbundsystemen ermöglicht es, den Raum Europa sowohl empirisch als auch konzeptionell zu fassen. Denn Europa bildet sich als verdichteter Handlungsraum jenseits nationaler Grenzen und als verdichteter Identitätsraum in hemispherischen Verbundsystemen. (3) Europa ist in beiden Fällen nicht einfach eine „Sphäre“ oder eben eine Differenz, sondern entwickelt in beiden Fällen institutionelle und prozedurale Formen der Organisation des internen Zusammenhangs, die sich zwar im zwanzigsten Jahrhundert als zerreißbar erweisen, aber doch ein essentieller Bestandteil einer Geschichte nicht nur Europas, sondern jedes einzelnen Nationalstaates und jener scheinbar unregulierten Sphäre transnationaler Verflechtungen war.

Vorträge Epoche
Territorialisierung und Entterritorialisierung in Europa im Zeitalter der Französischen Revolution Neuere/Neueste Geschichte
Europa in der zweiten Globalisierungswelle: Entterritorialisierung und Grenzziehung 1970–2010 Neuere/Neueste Geschichte
Die Transnationalität Europas in der Europa- und in der Weltgeschichtsschreibung der letzten Dekaden Neuere/Neueste Geschichte