Gewinner und Verlierer im Normenwandel? Spätmittelalterliche Praktiken der Güterwegnahme an Land und auf See im Vergleich

JAN RÜDIGER (Basel)
Moderation

MICHAEL JUCKER (Luzern) und GREGOR ROHMANN (Frankfurt am Main/Köln)
Einführung

BASTIAN WALTER (Wuppertal)
Von Handschuhen, Schwertern und den „wahren Waffen“ des französischen Königs.
Die Erbeutung von Gegenständen aus königlichem Besitz in mittelalterlichen Schlachten

STEFAN XENAKIS (Gießen)
„… zu zaichnen bey iren aiden, waß si in den heyser haben“.
Verhandlungen um Beutenahme in Schwäbisch Gmünd 1519

PHILIPP HÖHN (Saarbrücken/Frankfurt am Main)
Konsens durch Konfrontation?
Güterwegnahmen als Strategie kaufmännischer Konfliktaustragung im Hanseraum auf See und an Land (ca. 1350 – 1450)

NICOLAI CLARUS (Hamburg)
Von „Vitalienbrüdern“ und „Ausliegern“: Der Fall Bartholomäus Voet und Gesellschaft

CHRISTINE REINLE (Gießen)
Kommentar

Abstract:
Wenn Einer dem Anderen etwas wegnimmt, gibt es immer Gewinner und Verlierer. Und jede Gesellschaft bringt Spielregeln hervor, die bestimmen, welche Formen von Gütertransfer erlaubt und welche verboten sind. Juristisch wie ethisch begründete Normierungsversuche definieren die Legitimität der Wegnahme, sind dabei jedoch permanent dem aktuellen machtpolitischen Diskurs ausgesetzt. Deshalb sind Eingrenzungsversuche in der vormodernen Gesellschaft stets situativ umstritten.
Die Ausführung der Güterwegnahme wird in der Vormoderne häufig an Gewaltdienstleister delegiert. Sie wählen je nach Opportunität die Formen der Güterallokation; und die sie umgebende Gesellschaft beurteilt die Legitimität dieser Formen jeweils unterschiedlich. Wenn sich die Spielregeln der Güterwegnahme ändern, ändert sich die Geschäftsgrundlage der Gewaltdienstleister und ihrer Auftraggeber: Manche werden zu Verlierern, andere zu Gewinnern des Normenwandels. Die Unterscheidung von Räuber und Gendarm, von Pirat und Admiral war normativ seit der Antike bekannt, in der Praxis aber blieb sie noch lange eine theoretische Kategorie. Die Aushandlungsprozesse lebten gerade davon, dass die Normen längst formuliert waren, aber zunächst nur taktisch eingesetzt wurden.
Für das Binnenland werden diese Probleme in der historischen Forschung seit langem diskutiert. Weniger beachtet wurde bisher der maritime Raum des Mittelalters, der doch für die ökonomische Distribution ungemein wichtig war: Ungeachtet der Tatsache, dass kaufmännisches Recht und internationale Rechtspraxis auf See eine vielfältig differenzierte Skala von Formen der legitimierbaren Güterwegnahme kannten, geht die Forschung immer noch fast durchgehend von der anachronistischen Unterscheidung von verbotener „Piraterie“ und erlaubter „Kaperfahrt“ aus.
An diesem Punkt möchten wir ansetzen, indem wir anhand von ausgewählten Fallbeispielen Normen und Praxis an Land und auf See vergleichen: Waren die Geschäftsbedingungen für Auftraggeber, Gewaltdienstleister und Geschädigte die gleichen oder bildete das Meer normativ und praktisch eine eigene Sphäre? Wie war der Gewaltmarkt organisiert? Wie wurden welche Sachgüter transferiert, wie Personen? Ging man mit der inhärenten Gewaltförmigkeit des Rechtsaustrags an Land und auf See ähnlich um? Wie stellte man fest, wer Gewinner und wer Verlierer war?

English Version:
If one takes from another, there is always a winner and a loser. And every society tends to bear rules that determine which forms of material transfer are legitimate and which are not. However, juridical and ethical attempts to standardise the legitimacy of divestement are permanently influenced by discourses of power. Efforts to define legitimacy are therefore always contentious and depending on the situation, especially in premodern societies.
Actors often delegate the realisation of divestments to service providers. They chose special forms of allocation of goods depending on opportunity. And the society around them estimates the legitimacy of these forms differently. When the rules of divestment alternate, the basis of contract between providers and employers changes: Some become losers, other winners of change. The difference between police and thiefs, admiral and pirate was well known since antique times in normative terms; in practice it remained a theoretical category for a long time though. The processes of negotiation depended on the fact that the norms were already defined, but for the time being were used only tactically.
These problems have been well discussed by scholars for a long time concerning the inland sphere. Far less attention has been paid to the maritime realm, which was yet extraordinary important for the distribution of goods. Notwithstanding the fact, that merchant’s law and international customary law as well knew manifold different forms of legitimate divestments at sea, scholars until today tend to use only the anachronistic confrontation of criminal “piracy” and lawful “privateering”.
At this point we want to commence by comparing norms and practices on land and at sea on the basis of cases studies. Were the terms of business the same for sponsors, service providers and claimants, or did the sea constitute a sphere of its own in normative and practical terms? How was the violence market organized? How were goods and persons seized and transfered? Did people deal similarly with the inherent violence of the practice of customary law on land and at sea? How did they discern winners and losers?