Zwischen Faktizität und Konstruktion: fragile Fakten als historisches und historiographisches Problem in der Alten Geschichte
Abstract
Wenn Fakten heutzutage fragiler denn je erscheinen, ist eine historische Perspektive angebracht. Sicherlich ist sich die Geschichtswissenschaft im 21. Jh. in höchstem Maße der Multiperspektivität von Wirklichkeitswahrnehmung bewusst, aber die Frage bleibt, wie das Fach mit der Vielstimmigkeit umgehen soll: Denn dass jede Geschichte nur eine beschränkte Perspektive auf die historische Wirklichkeit wiedergeben kann, bedeutet nicht, dass jede Perspektive auch die gleiche empirische Triftigkeit aufweist. Die Frage, wieso bestimmte Perspektiven in ihren jeweiligen Deutungskontexten auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen, kann u. E. sehr ergiebig aus althistorischer Sicht untersucht werden.
Im Zentrum stehen bei dieser Sektion Fallbeispiele, in denen die Deutungshoheit bestimmter AkteurInnen oder Gruppen den Wirklichkeitsdiskurs in entscheidender Art und Weise geprägt hat: Faktizität zeigt sich dabei - bestenfalls - als nur einer der Faktoren, die das Narrativ mitbeeinflussen, neben etwa politischen und generationellen Machtstrukturen oder kulturellen Idealbildern aller Art. Indem wir sehen, wie Faktizität hierbei gefordert, behauptet oder eingeschränkt wurde, kann die Antike als ein Labor für die soziale Verhandlung unterschiedlicher Perspektiven fungieren.
Je größer unser Verständnis der komplexen Mechanismen ist, die bei der Konstruktion und Akzeptanz von faktualen Narrativen in den unterschiedlichsten Kontexten eine Rolle spielen, desto eher ist es möglich, zu eruieren, wie Faktizität und Multiperspektivität intersubjektiv miteinander vereinbart werden können, was auch für die schulische und universitäre Förderung des Hinterfragens problematischer Denkmuster Früchte tragen kann. Unser Anliegen betrifft somit nicht nur grundsätzliche histori(ographi)sche Probleme, sondern ist ebenso für aktuelle Fragen von Relevanz - vom Postkolonialismus bis zu den sogenannten Querdenkern -, für die eine gesteigerte Intersubjektivität dringend angebracht ist.
Dieser Vortrag widmet sich der Frage, wie die Tradition und der ethnographische Denkrahmen die Wahrnehmung der Realität von zeitgeschichtlichen und geographischen Zuständen geprägt haben. Strabons Behandlung der homerischen Lotophagen und Tacitus‘ Judenexkurs sind zwei von vielen Beispielen, die sehr eindrücklich den Sieg der Tradition und der ethnographischen Topoi über den Empirismus und die Faktizität zeigen. Diese merkwürdige Sachlage lässt sich erklären, wenn man sich den Traditionalismus als epistemische Tugend der Griechen und Römer vor Augen führt und sich klar macht, wie stark die Autorität des Altehrwürdigen, der Vorfahren und des Konsenses war.
Der Vortrag konzentriert sich auf drei für das Schicksal der Phoker entscheidende Momente: die (erfolglose) Verteidigung der Thermopylen, den ‚zweiten heiligen Krieg‘ und den ‚dritten heiligen Krieg‘. Die Phoker konstruierten in diesen Phasen ihre eigenen intentionalen Geschichten, zu denen wir aber keinen direkten Zugang haben. Welche sind die Medien, durch die sie uns erreichen? Inwieweit wurden diese Medien zu einem middle ground für die gemeinsame Erzeugung und gegenseitige Beeinflussung intentionaler Geschichten verschiedener Gruppen (z. B. Phoker und Athener), die den Bedürfnissen der jeweils anderen Seite Rechnung tragen konnten?
Dieser Beitrag soll der Rolle von Expertentum im Rahmen der Etablierung fragiler Fakten nachgehen. Ein gut greifbares Einzelbeispiel dafür stellt der nordafrikanische Monarch Iuba II. von Mauretanien (ca. 50 v.u.Z – 23 u.Z.) mit seiner Publizistik dar: Mithilfe seines früh erworbenen Nimbus als sprichwörtlicher rex literatissimus (Ampelius) gelang es diesem, zunächst sein politisches Fortkommen, später seine Macht durch einen mitunter gezielt manipulativen Einsatz von Gelehrsamkeit zu sichern und zugleich das ihn stützende Regime des Augustus zu stabilisieren.
Der Beitrag geht der Frage nach, wie politische Veränderungen in der späten römischen Republik und im frühen Principat durch den Rückgriff auf die exempla maiorum diskursiv verankert und legitimiert werden konnten. Die stetige Neuverhandlung des mos maiorum, die rhetorische Konstruktion neuer exempla sowie die Anerkennung der Veränderbarkeit der mores konnten neuartige Machtkonstellationen begründeten. Dabei wird deutlich, wie fragil ‚Fakten` in Rom waren und je nach politischer Zweckmäßigkeit Innovationsbereitschaft durch die kommunikative Konstruktion neuartiger Beispiele begründet werden konnte.
Mit dem Alten Rom werden traditionell Dekadenzdiskurse verbunden, nicht zuletzt, weil sie auch zum Bestandteil des Untergangsnarrativs geworden sind. Bereits in der Spätantike werden luxuria-Motive rezipiert, die auf die spätrepublikanische, moralisierende Streitkultur zurückgehen. Das Narrativ verfügt damit über eine lange, auch antike Tradition, die seine Dekonstruktion uninteressant und unmöglich gemacht zu haben scheint. Der Vortrag zeichnet die Tradierung des Erzählmotivs nach und stellt damit die Validisierungsqualität der Tradierung an sich als faktualisierenden Faktor von der Antike bis heute zur Diskussion.