Sybille Steinbacher (Sektionsleitung)

Raub und Holocaust in Europa. Akteure, Motive und Nachgeschichte

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Abstract

Der Raub an der jüdischen Bevölkerung in Europa war ein signifikantes Merkmal des Holocaust. Dies gilt für das nationalsozialistische Deutschland, in besonderem Maße aber auch für die von Deutschland besetzten Länder und, in Teilen, für die Verbündeten des NS-Regimes. Ob der Staat, die Wirtschaft oder Einzelpersonen profitierten – die Holocaustforschung hat in einer Reihe von Lokal- und Regionalstudien die verschiedenen Raubpraxen als gesellschaftlichen Prozess erfasst, an dem weite Teile der Bevölkerungen beteiligt waren. Zur Diskussion stand dabei stets auch der Zusammenhang von ökonomischem Interesse, Ideologie und Massenmord. Materielle Aspekte des Raubs ziehen sich bis in die Gegenwart, wobei bisher die Geschichte von Raub und Restitution jenseits von Westeuropa wenig Beachtung fand.
Daher wird in der Sektion der Fokus insbesondere auf den ost- und südosteuropäischen Ländern liegen. Ohne die zentrale Rolle und Verantwortung des nationalsozialistischen Deutschlands als Verursacher und wesentlicher Akteur des Holocaust in Frage zu stellen, werden die Dynamiken von Raub und Mord sowie Fragen nach Mittäterschaft und Nutznießertum in den überfallenen und kollaborierenden Ländern sowie deren Nachwirkungen beleuchtet. Überregionale, vergleichende Ansätze stellen den internationalen und verflochtenen Charakter der Beschlagnahmung des Vermögens der jüdischen Bevölkerung in Europa in einen gesamteuropäischen Kontext. Ein Zusammendenken von makro- und mikrohistorischen Perspektiven schärft den Blick auf das Phänomen des Raubs und seine Nachgeschichte. Ansätze aus der jüngeren internationalen Holocaustforschung werden zusammengeführt und diskutiert. Damit leistet die Sektion einen Beitrag zu einer breiten Gesellschaftsgeschichte des Holocaust sowie zu bis heute drängenden sozialen und moralischen Fragen.

Veronika Duma (Frankfurt am Main)
Die Sprache des Raubs. Wie die kollaborierenden Länder um das Raubgut konkurrierten

Das nationalsozialistische Regime entwickelte verschiedene Begriffe für die vielfältigen Praxen des Raubs an der jüdischen Bevölkerung in Europa. Die Sprache des Raubs diente als rechtlicher und moralischer Orientierungsrahmen und zeichnete sich durch einen antisemitischen Grundkonsens aus. Am Begriff und der Praxis der „Arisierung“ wird sichtbar, wie die gemeinsame Sprache des Raubs, ausgehend von Deutschland, sich in den Ländern der Achsenmächte und teils auch in den besetzten Gebieten festsetzte. In Staaten wie der Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Frankreich und Italien entstanden Institutionen des Raubs, die sich an der Idee der „Arisierung“ orientierten und sie für ihre eigenen Zwecke nutzten. Dafür verwendeten sie Begriffe, die auf den jeweiligen Nationalismen basierten, wie „Slowakisierung“ oder „Bulgarisierung“, und etablierten Institutionen, die das jüdische Vermögen „verwalteten“, wie das „Centrul Naţional de Românizare“ oder der „Service du Contrôle des Administrateurs Provisoires“. Veronika Duma diskutiert in ihrem Vortrag, inwiefern diese Institutionen mit dem NS-Regime um das Raubgut der bestohlenen jüdischen Bevölkerung konkurrierten.

Agnieszka W. Wierzcholska (Berlin)
Wie Nachbarn stahlen. Eine mikrohistorische Studie zur Plünderung jüdischen Eigentums durch die Einheimischen im besetzten Polen

Der Beitrag widmet sich bislang wenig genutztem Quellenmaterial. Die Kriminalpolizei im besetzten Polen leitete bereits während des Zweiten Weltkrieges Ermittlungen ein, um die Plünderung jüdischen Eigentums durch einheimische Polen zu untersuchen. Obwohl die Ermittlungen in den meisten Fällen eingestellt wurden, verhörten polnische Polizisten 1942 Zeugen und dokumentierten Anzeigen des Judenrats. Anhand dieses Quellenmaterials, das größtenteils in lokalen Archiven lagert, lässt sich der Prozess, der zeigt, wie nichtjüdische Bewohner ihre „ausgesiedelten“ jüdischen Nachbarn bestahlen, auf dichte Weise rekonstruieren. Der Vortrag wird diesen Prozess einerseits nachzeichnen und ihn andererseits in einen breiten Kontext stellen. Agnieszka W. Wierzcholska fragt nach der Bedeutung des Vorkriegsantisemitismus in Polen und zeigt zugleich, wie die deutsche Besetzung des Landes die Beziehungen zwischen nichtjüdischen Polen und ihren jüdischen Nachbarn radikalisierte. Auch wird sie über die skizzierte, besondere, während der deutschen Besetzung entstandene Quellengattung reflektieren und sie mit den Nachkriegsprozessen vergleichen.

Magdalena Waligorska (Berlin)
The second Life of Jewish Belongings. Jewish personal Objects and their Afterlives in the Belarusian post-Holocaust Shtetls

This talk examines the ways in which Jewish personal belongings that have been appropriated by gentiles during and in the aftermath of the Holocaust have been identified, demanded back, passed down from generation to generation, commodified, and, finally, collected, traded, and exhibited. Basing her analysis on fieldwork and archival research, and focusing on four case studies: the towns of Biłgoraj and Izbica in Poland, and Mir and Iŭje in Belarus, Magdalena Waligorska looks at the ways in which Holocaust survivors, their descendants, and the local populations have dealt with the mass-scale dispossession of Jewish property that took place in these locales. Her objective is to determine whether the Jewish identity of Jewish personal belongings appropriated by local non-Jewish communities during or in the aftermath of „Holocaust by bullets“, survived in the postwar communities in which they have been circulating, and define what role they played for the postwar relations between Jews and non-Jews.

Borbála Klacsmann (Budapest)
Restitution in Hungary. Experiences of Holocaust Survivors after their Return Home

Most narratives of the Holocaust end with the liberation and the end of the war. However, the Holocaust had an impact on the survivors’ lives on the long term: not only had they lost their relatives, but upon their return they realized that majority society did not expect them to come back. Their houses were occupied by non-Jews, their furniture, clothes and other belongings confiscated and redistributed in a way that often it was impossible to trace the fate of certain valuables. In her presentation Borbála Klacsmann will investigate post-war Jewish life and restitution in Hungary from a microhistorical perspective. The experiences of the survivors and the failures of restitution provide insight into the micro- and macrohistorical milieu, the difficulties of national economy, the transition into socialism, and most importantly, Jewish and non-Jewish relations.

Markus Roth (Frankfurt am Main)
Schwieriges Erbe – Raub und Restitution in der polnischen Debatte seit 1989/90

Mit dem Ende der Volksrepublik Polen 1989/90 kam die Frage nach dem Umgang mit dem ehemaligen Eigentum polnischer Jüdinnen und Juden erneut auf die Tagesordnung. Eine politische und juristisch tragfähige Lösung – zum Beispiel in Form eines Restitutionsgesetzes für Privatbesitz – wurde bis heute nicht gefunden. Der Umgang mit dem früheren Privatbesitz polnischer Jüdinnen und Juden gehört in Polen daher unvermindert zu den brisantesten und umstrittensten Themen, die nicht nur wirtschaftliche Interessen, sondern unter anderem auch das Selbstverständnis der polnischen Gesellschaft in Bezug zu ihrer Geschichte während des Holocaust berührten. In seinem Beitrag analysiert Markus Roth die Positionen und Interessen der verschiedenen nationalen und internationalen Akteurinnen und Akteure in den Debatten um Restitution und verortet diese in den polnischen Holocaustdebatten.

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