(01. Oktober 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 3094/96)
Leitung: Prof. Dr. Annette Kehnel, Mannheim / PD Dr. von Heusinger, Mannheim
1. Einführung
Referent/in: Prof. Dr. Annette Kehnel, Mannheim
2. Keynote: „Der homo portans, seine Natur und seine Stellung in der Welt“ – Anmerkungen zum Thema aus Sicht Arnold Gehlens
Referent/in: Karl-Siegbert Rehberg, Dresden
3. „Tragbare“ Frauenfiguren aus ganz Europa – Anhänger aus der Altsteinzeit
Referent/in: Sibylle Wolf, Tübingen
4. Tragende Gottheiten im alttestamentlichen und vorderorientalischen Kontext
Referent/in: Prof. Dr. Maria Häusl, Dresden
5. Die getragene Gottheit: Madonna della Bruna in Matera
Referent/in: Dr. Cristina Andenna, Potenza
6. gerere personam Christi: Der Papst als Träger göttlicher Autorität
Referent/in: Prof. Dr. Agostino Paravicini Bagliani, Lausanne
7. Fasszieher und Karrer – Warenträger in der mittelalterlichen Stadt
Referent/in: PD Dr. Sabine von Heusinger, Mannheim
8. Das Steintragen als Schandstrafe für Frauen im Mittelalter
Referent/in: Dr. Jörg Wettlaufer, Kiel
9. Tragen als Strafe im 20. Jahrhundert
Referent/in: Prof. Dr. Peter Steinbach, Mannheim
10. Tragen ist Frauensache und die Erde ist eine Scheibe
Referent/in: Prof. Dr. Sigrid Schmitz, Freiburg
11. Bonnets, hoods and hats in history and folklore: Little Red Riding Hood as an example
Referent/in: Prof. Dr. Mirjam Mencej, Ljubljana
12. The White Man’s Burden. Der homo portans im Kolonialismus
Referent/in: Prof. Dr. Johannes Paulmann, Mannheim
13. „Homo portans“ und die Kunst
Referent/in: Arie Hartog, Bremen
14. Der homo portans in Wissenschaft und Öffentlichkeit
Referent/in: Christian Holtorf, Dresden
Posterpräsentation
1. Erfahrungen von den „Etruskern in Bonn“
Referent/in: Anja Schindler, Klotten
2. homo portans im Museum – eine Potentialanalyse
Referent/in: Dr. Ulrike Scherzer, Dresden
Abstract
Fragestellung
Jeder trägt: Taschen, Eimer, Krüge, Kinder, Koffer, Hüte, Kronen, Beute, Futter, Waren, Werkzeug, Schirme, Amulette, Schmuck, Akten, Tote, Kranke, Orden, Fackeln, Fahnen, Waffen, Geld, Handy etc. Der Mensch trägt, um Dinge von hier nach da zu transportieren, er trägt Waren zu Markte, er trägt Beute nach Hause, er trägt bei sich, was ihm wichtig ist, er trägt mit seinen Kindern seine Zukunft auf dem Arm, er trägt, um zu helfen, er trägt seine Habseligkeiten auf der Flucht, er trägt Gegenstände zu seinem Schutz, er trägt sein Schicksal, er trägt Verantwortung, er trägt Lasten, er trägt die Zeichen seines Standes, er trägt mit sich, was er braucht. Tragen ist ein Alltagsphänomen. Die menschliche Fähigkeit zu tragen kann gemeinsam mit der Erfindung der Sprache und der Ausbildung des menschlichen Gehirns als entscheidende grenzüberschreitende Bedingung für die Erfolgsgeschichte der Menschheit betrachtet werden.
Der homo portans steht am Anfang menschlicher Zivilisationsgeschichte. Die ältesten Spuren von Dingen, die „vom Menschen getragen“ wurden, deuten nicht auf funktionale logistische Transportleistungen, sondern vielmehr auf das Tragen bestimmter symbolischer Zeichen am menschlichen Körper hin: Amulette, Ringe, Schmuck und andere Zeichen, die man vermutlich zum Schutz (als apotropäische Objekte) oder als Erkennungszeichen trug. Möglicherweise steht die Verwendung des menschlichen Körpers als „Symbolträger“ und Erkennungszeichen am Anfang der Kulturgeschichte des Tragens.
Die Sektion fragt in einem epochen- und kulturübergreifend angelegten Zugriff nach den Implikationen der menschlichen „Tragefähigkeit“. Sie widmet sich den vielfältigen Konsequenzen für den menschlichen Körper, für die Entwicklung menschlicher Zivilisationen und Gesellschaften, für Wirtschaft, Kultur, Natur und Umwelt etc. Das Projekt ist inspiriert von der „Faszination des Selbstverständlichen“.
Inhalte
Folgende kulturhistorisch übergreifende Überlegungen strukturieren das Projekt:
1. Die Fähigkeit zu tragen ist eine wesentliche Voraussetzung für menschliche Kultur. Der Homo portans liefert die Voraussetzung für die Sesshaftwerdung der Menschen und ist in der Lage seine Lebensweise und seine Kultur von einem Ort zum anderen zu transferieren. Er ist in der Lage seinen Nachwuchs, seine Gene, Eigentum und Besitz, Identität und Erinnerung mit sich zu tragen und so Kontinuität zu stiften.
2. Tragen ist eine Grundform menschlicher Arbeit. Werkzeuggebrauch setzt die Fähigkeit zu Tragen voraus. Tragen ist eine Voraussetzung für Vorratsbildung, Marktbildung, Besitzakkumulation etc.
3. War der homo portans eine Frau? „Tragen ist Frauensache“, das jedenfalls implizieren zahlreiche Forschungen zur kulturellen Evolution des Menschen. Frauen – so die Thesen – hätten schon auf Grund ihrer biologischen Tragefähigkeit (Schwangerschaft) das Tragen erfunden, während die Männer auf der Jagd ihr Leben riskierten („Man the hunter – women the gatherer“). Dieser Art genderspezifische Implikationen werden in jüngster Zeit im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit den Prämissen wissenschaftlicher Theoriebildung seit dem 19. Jahrhundert zunehmend relativiert.
4. Die Fähigkeit zu tragen stiftet Identität, Schutz und Gemeinschaft. Der homo portans trägt die Zeichen seiner Identität mit sich und an sich. Damit konstituiert und bewahrt er seine Gruppenzugehörigkeit und grenzt sich von andern ab (Waffen, Uniformen, Tracht, Orden, Haarschnitte, Symbole der Familienzugehörigkeit, Zeichen der Macht, Insignien, Statussymbole, Tätowierung, Aktentasche etc.).
5. Der homo portans trägt, um zu zeigen. Er trägt, um Bedeutung zu konstituieren, er trägt, was ihm wichtig und heilig ist. Aus dieser Perspektive wird das Tragen als eine Geste der Ehrerbietung interessant. Menschen tragen die ihnen „heiligen“ Objekte und die Symbole der Ordnungen, die sie geschaffen haben: die heilige Lade in Israel, der Leib Christi in der Fronleichnamsprozession, Heiligenstandbilder, die Fackel der Freiheit (Freiheitsstatue).
6. Der homo portans lässt tragen. Die Geschichte menschlicher Zivilisation ist zunächst eine Geschichte der Optimierung des Tragens und dann eine Geschichte der Entlastung vom Tragen: Darstellung der Techniken des Tragens von der Tasche über Köcher, Körbe, Krüge bis zum Rucksack (die Gletschermumie Ötzi [um 3.300 v. Chr.] war mit einer Kraxe unterwegs); sodann die Geschichte der Entlastung vom Tragen seit der Erfindung des Rades, dann der Schubkarre im Mittelalter bis zum modernen Lastenkran und Flugzeugträger.
7. Die Fähigkeit zu tragen stimuliert schließlich auch das Bedürfnis zu tragen. Im Laufe der kulturellen Evolution wird dieses Bedürfnis das Weltverhältnis des Menschen ändern. Der homo portans trägt seine Welt mit sich und kann sie deshalb gestalten. Er wird zum „Schöpfer“. Wer trägt, fühlt sich zugleich „belastet“ und sicher oder jedenfalls „nützlich“. Tragen stiftet Sinn. Der Mensch als Weltenträger, das Bedürfnis nach Verantwortung: „ein Jeder trage des Anderen Last“ (Atlas, Telamon, Terra, der Heilige Christopherus, das Bild von der Tragenden Gottheit).
8. Das Trauma vom Tragen: Strafe, Flucht, und Vertreibung. Der Mensch zwingt den Menschen zum Tragen. Tragen als Grundform der Strafe und der öffentlichen Demütigung durchzieht die Geschichte der Menschheit seit ihren Anfängen bis in die Gefangenenlager des frühen 21. Jahrhunderts.
Zielsetzungen
Das hier vorgeschlagene Projekt ist interdisziplinär höchst anschlussfähig. Die Sektion möchte die vielfältigen Zugriffsmöglichkeiten, die das Thema anbietet, zunächst vorstellen und strukturieren, um dann in einem zweiten Schritt Ansätze für ein mögliches Ausstellungskonzept bündeln. Beteiligt sind außer den historischen Fächern (Ur- und Frühgeschichte, Alte Geschichte, Mittelalterliche Geschichte, Neuere und Neueste Geschichte, Zeitgeschichte) zunächst die Disziplinen Verhaltensbiologie, Soziologie, Kulturanthropologie und Wissenschaftsgeschichte. Für die Gestaltung der mittelfristig geplanten Ausstellung ist weiter die Öffnung der Grenzen hin zur Gegenwartskunst angedacht.