Staatsausbau als Grenzüberschreitung: Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene. Ein europäisch-globaler Vergleich mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert

(29. September 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.308)

Leitung: Dr. Jörg Ganzenmüller, Jena / Dr. Tatjana Tönsmeyer, Berlin



1. Aushandlungsorte lokaler Herrschaft in England und Böhmen: Lokalverwaltungen und Gerichte zwischen Staat, Adel und lokaler Bevölkerung

Referent/in: Dr. Tatjana Tönsmeyer, Berlin

2. Von der dynastisch-katholischen Weltmacht zum spanischen Nationalstaat: Leistungen und Schwierigkeiten des Staatsausbaus in Spanien

Referent/in: Prof. Dr. Jesús Millán, Valencia

3. Die doppelte Grenzüberschreitung: Territoriale Expansion und Staatsausbau im Zarenreich und in Bayern

Referent/in: Dr. Jörg Ganzenmüller, Jena


4. Probleme lokaler Staatlichkeit in der nachkolonialen Welt – eine Vergleichsoption?

Referent/in: Prof. Dr. Patrick Wagner, Halle / Saale

5. Kommentar

Referent/in: Prof. Dr. Jörn Leonhard, Freiburg / Br.



Abstract

Staatsausbau als Grenz-Überschreitung: Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene. Ein europäisch-globaler Vergleich mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert
Die Entstehung des modernen Staates ist eng mit der Ausweitung der zentralen Staatsgewalt auf die lokale Ebene des Staatsgebietes verknüpft. Diese erfolgte nicht zuletzt durch den Aufbau von Bürokratien und durch die Ausweitung der Staatstätigkeit. Betrachtet man die beteiligten Akteure, so sind zum einen die lokalen Amtsträger zu nennen, die als zunehmend professionell ausgebildete Beauftragte einer bei aller Differenzierung einheitlichen Staatsgewalt erscheinen. Sie stießen auf die traditionellen Eliten, die nicht selten noch kurz zuvor Herrschaftsträger aus eigenem Recht gewesen waren. Wollten erstere staatliche Normen vor Ort durchsetzen und Projekte zur Entwicklung der Gesamtgesellschaft implementieren, so konnte ihnen dies nur gelingen, wenn sie sich erfolgreich innerhalb der traditionellen lokalen Machtbeziehungen verorteten. Der Staatsausbau im Europa des langen 19. Jahrhunderts lässt sich somit auch als eine Geschichte schreiben, wie die Zentralgewalt die bis dahin bestehenden Binnengrenzen zwischen den Zentren der Macht und den traditionalen Herrschaftsräumen in den Regionen überschritt.

Die Forschung ist sich inzwischen darüber einig, dass Herrschaft vor Ort auch im 19. Jahrhundert durch komplexe Kommunikations- und Interaktionsprozesse gekennzeichnet war, die mit dem Begriff des „Aushandelns“ beschrieben werden können. Es erscheint deshalb lohnenswert, auch den Prozess des Staatsausbaus als einen solchen Aushandlungsprozess zwischen Agenten der Zentralgewalt und jenen der lokalen Gesellschaften, speziell der ökonomisch Mächtigen sowie sozial Einflussreichen unter ihnen, zu untersuchen. Das Vorrücken des Staates in die Fläche erscheint dann nicht als unaufhaltsamer Vormarsch der staatlichen Bürokratie, sondern als diskontinuierlicher, vielfach kontingenter Prozess, in dem die Bedingungen der Ausübung von Autorität auf verschiedenen Feldern stets neu ausgehandelt wurden. Gleichzeitig veränderte die staatliche Zentralgewalt diese Aushandlungsprozesse, indem sie ihre Normen vermittelte und die Institutionalisierung von Herrschaft initiierte. Das Überschreiten der Grenzen in traditionale Herrschaftsräume führte damit nicht zuletzt zur einer allmählichen Verschiebung dieser Binnengrenzen. Ein solcher Ansatz ermöglicht es darüber hinaus, Prozesse in der nachkolonialen Welt vergleichend einzubeziehen, was sich im übertragenen Sinne auch als Überschreitung konzeptioneller und forschungspraktischer Grenzen verstehen lässt.

Folgende Leitfragen stehen daher im Zentrum des Erkenntnisinteresses:

Auf welchen Feldern handelten die verschiedenen Akteure das Vorrücken des Staates in die Fläche aus?
Wo verliefen die Grenzen einer „Durchstaatlichung“ der Provinz?
Welche Strategien entwickelte die Staatsgewalt, um diese Grenzen zu überwinden, welche die lokalen Akteure, um ihre Aushandlungspositionen zu stärken?
Wo entstanden im Verlauf dieses Prozesses neue Grenzen und welcher Art waren sie?

Die europäische Entwicklung des Staatsausbaus im 19. Jahrhundert soll in der vorgeschlagenen Sektion an den europäischen Beispielen Spanien, England, Bayern, Böhmen und Russland vergleichend untersucht und in einen globalgeschichtlichen Kontext gestellt werden. Gerade ein Vergleich unterschiedlicher Wege zum Staatsausbau ermöglicht Aussagen darüber, welche Elemente dem allgemeinen Phänomen inhärent sind und worin sich regionalen wie globale Varianten auf dem Wege zum modernen Staat unterscheiden.

Vorträge Epoche
Aushandlungsorte lokaler Herrschaft in England und Böhmen Neuere/Neueste Geschichte
Von der dynastisch-katholischen Weltmacht zum spanischen Nationalstaat Neuere/Neueste Geschichte
Doppelte Grenzüberschreitung: Territoriale Expansion und Staatsausbau im Zarenreich und in Bayern Neuere/Neueste Geschichte
Probleme lokaler Staatlichkeit in der nachkolonialen Welt - eine Vergleichsoption? Neuere/Neueste Geschichte