(30. September 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.201)
Leitung: Dr. Jan Timmer, Bonn
1. Einführung
Referent/in: Dr. Jan Timmer, Bonn
2. Die Ungleichheit der kretischen Homoioi
Referent/in: Dr. Gunnar Seelentag, Köln
3. Zensusgrenzen in griechischen Poleis, oder: Wie groß war der verfassungsrechtliche Abstand der sog. Oligarchien von der (athenischen) Demokratie?
Referent/in: Dr. Wolfgang Blösel, Köln
4. Mut zur Entscheidung. Die Ausweitung von Partizipationschancen durch die Reformen Solons
Referent/in: Prof. Dr. Winfried Schmitz, Bonn
5. Entscheidung und Gemeinwohl. Die attische Demokratie im 4. Jh. v.Chr.
Referent/in: Dr. Jan Timmer, Bonn
6. Schlussdiskussion
Abstract
Hinführung
Teilhabe gilt als das Zeichen gelungener Demokratie schlechthin. Daß diese Teilhabe nicht unbeschränkt ist, Chancen und Grenzen politischer Partizipation auch in dieser Herrschaftsform interkulturell sowie in historischer Perspektive variabel sind, ist zwar unbestritten, wird aber häufig lediglich als Abweichung von einem Idealtyp „Demokratie“ verstanden, wobei dieser wiederum, mit Blick auf die Kriterien, wie dies bei einem derart aufgeladenen Begriff wie Demokratie nicht anders zu erwarten ist, häufig unklar bleibt. Ziel der Sektion soll es sein, anstatt den schwierigen Demokratiebegriff zum Ausgangspunkt der Analyse griechischer politischer Systeme zu machen, die Funktion und Ausgestaltung von Partizipationsgrenzen im Spannungsfeld zwischen Legitimität und Effektivität am Beispiel von Verfassungen des klassischen Griechenlands zu beleuchten.
Forschung
Die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Partizipationschancen und –grenzen sowie nach den Maßstäben für die Bewertung demokratischer Systeme ist in mehrfacher Hinsicht aktuell, und zwar sowohl in der althistorischen Forschung als auch auf anderer Ebene in der politikwissenschaftlichen
Diskussion
Das Interesse an politischen Organisationsformen im Allgemeinen und Demokratien im Besonderen ist in der Alten Geschichte ungebrochen rege. Dafür spricht nicht allein, daß sich auf dem 47. Deutschen Historikertag in Dresden eine Sektion mit der Demokratie in der hellenistischen polis beschäftigte, sondern auch die Vielzahl neuerer Publikationen zum Thema, die z.T. explizit auf die lebensweltliche Erfahrung veränderter Grundbedingungen für demokratische Herrschaft verweisen (etwa Cartledge 2008; dort auch ein Überblick über die neuere Literatur). Dabei stellt die attische Demokratie schon aufgrund der Quellenlage einen Schwerpunkt des Interesses dar. Sowohl in Hinblick auf die Entstehung der Demokratie (Raaflaub/Ober/Wallace 2007) als auch auf ihre weitere Entwicklung sind in den letzten Jahren weiterführende Ergebnisse erzielt worden.
Dabei zeigen allerdings das Ausmaß wie die Form der Beschäftigung mit der antiken Demokratie die mit ihrer Analyse verbundenen Probleme: Demokratie ist ein schwieriger und umstrittener Begriff, bei dem allenfalls noch Klarheit darüber herrscht, daß breite instrumentelle Partizipation durch die Bürger ebenso notwendig hinzugehört wie Verfahren, die den Wechsel des Herrschens und Beherrscht-Werdens steuern. Die Leistungsfähigkeit von „Demokratie“ als analytischem Begriff ist hingegen kritisch zu bewerten. Dies gilt um so eher für die in den Blick genommene Epoche, das spätarchaische und klassische Griechenland, als sowohl „Demokratie“ wie auch ihr Gegenbegriff „Oligarchie“ bereits nach der Mitte des 5. Jahrhunderts in den Auseinandersetzungen zwischen Athen und Sparta als politische Schlagwörter von den athenischen „Demokraten“ geprägt worden sind (vgl. Bleicken 1979). Schon damals trat somit ihr deskriptiv-analytischer Gehalt gegenüber ihrer propagandistischen Tendenz weit zurück.
Die Frage danach, was geeignete Analysekriterien von politischen Systemen sind und welche Rolle instrumentelle Partizipation für die Legitimität von Entscheidungen spielt (Hüller 2005), ist aber nicht auf die Alte Geschichte beschränkt. Vielmehr gibt es zu diesen und verwandten Fragen seit einiger Zeit eine intensive Debatte innerhalb der Politikwissenschaft, die sich an der Frage nach Form und Qualität der Demokratie der Europäischen Union entzündet hat. Dabei lassen sich zwei Positionen unterscheiden: Wird von Vertretern einer beteiligungszentrierten Demokratietheorie ein grundsätzliches Demokratiedefizit der EU in Hinblick auf die Möglichkeiten der Beteiligung der Bürger an Entscheidungen diagnostiziert (vgl. etwa: Buchstein/Jörke 2003), so halten Vertreter der „rationalistischen“ Demokratietheorie die Ergebnisse, die das System zeitigt und die in der Regel positiv bewertet werden, für die wesentliche Grundlage der Legitimität des Systems (etwa: Scharpf
1999; Moravcsik 2004). Die Frage läuft hier also auf den Zusammenhang von drei Leitdimensionen zur Analyse politischer Systeme hinaus, nämlich instrumenteller, also auf die Auswahl von Entscheidungen bezogener, Partizipation, der Effektivität bzw. Systemrationalität und deren jeweiliger Bedeutung für die Legitimität des Systems sowie der vom System hergestellten kollektiv verbindlichen Entscheidungen.
Vor dem Hintergrund dieser Debatte in der politikwissenschaftlichen Demokratietheorie möchte die geplante Sektion die Forschungskontroverse in der Alten Geschichte aufgreifen und versuchen, mithilfe der aus der Politikwissenschaft entlehnten Leitdimensionen Legitimität, Effektivität/Systemrationalität und Partizipation, die Teilhabechancen und –grenzen im klassischen Griechenland zu untersuchen. Dabei wird unter Legitimität „die Chance“ verstanden, „dafür in einem relevanten Maße gehalten und praktisch behandelt zu werden“ (Weber 1972). Das Begriffspaar Effektivität / Systemrationalität verbindet zwei zusammengehörende Parameter, zum einen die Fähigkeit, kollektiv verbindliche Entscheidungen bei akzeptablen Transaktionskosten her-, zum anderen den Erhalt des politischen Systems sicherzustellen. Schließlich soll Partizipation im Sinne instrumenteller
Teilnahme verstanden werden, also einer Handlung, die Auswirkung auf die Wahl der Handlungsoptionen besitzt und nicht allein darauf ausgerichtet ist, Zugehörigkeit zu symbolisieren. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Dimensionen, insbesondere wie durch die Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten Legitimität geschaffen, welche – gegebenenfalls nachteiligen – Folgen für die Effektivität politischer Systeme die Ausweitung mit sich brachte und, komplementär dazu, in welchem Maße die Legitimität politischer Systeme litt, wenn diese Partizipationsmöglichkeiten etwa durch Zensusgrenzen eingeschränkt wurden. Schließlich ist zu prüfen, mit welchen Mitteln die Gleichzeitigkeit von Teilhabe und Effektivität gesichert werden sollte. Hierbei ist etwa an Formen symbolischer Kommunikation, die es ermöglichen, Exklusion zu verschleiern, oder die Ausweitung normativer Partizipationsformen zu denken.
Drei historische Phänomene sollen mit Hilfe dieser Kriterien untersucht werden: Thematisiert werden die Modi der Exklusion aus dem politischen System anhand einer Untersuchung zu Zensusbeschränkungen im Dritten Griechenland, der symbolischen Kommunikation über Partizipationschancen und –grenzen in der kretischen Gesellschaft sowie anhand der attischen Demokratie, wo sich der Fokus auf die Ausweitung von Partizipationschancen im archaischen Griechenland und dem Bemühen, durch Veränderungen von Verfahren der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen und deren Ergebnis im 4. Jh. Legitimität zu steigern, richten soll.