Die antidemokratische Mentalität im Blickfeld der kritischen Theorie – ein transatlantischer Transfer in den Sozialwissenschaften zwischen Emigration und Remigration

(29. September 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 2097)

Leitung: Johannes Platz, Trier/Köln


1. Autoritäre Einstellungen bei Arbeitern und Angestellten am Vorabend des Dritten Reiches – eine empirische Studie in den 1930er Jahren

Referent/in: Carsten Schmidt, Gaggenau

2. Der „potentielle Faschist“ – Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie in den Feldforschungen des Instituts für Sozialforschung in den USA

Referent/in: Eva-Maria Ziege, Seattle

3. Die Praxis und Dialektik der Aufklärung – Kritische Theoretiker als amerikanische “Gegnerforscher“: Von der „neuen deutschen Mentalität“ zur Entspannungspolitik im Kalten Krieg

Referent/in: Tim B. Müller, Berlin

4. Das Gruppenexperiment des Frankfurter Instituts für Sozialforschung – Zur Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik

Referent/in: Stefan Lochner, Weimar/Jena

5. Die Heimkehrerstudie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung – antidemokratische Einstellungen unter Wehrmachtsveteranen in den 50ern

Referent/in: Johannes Platz, Trier/Köln

6. Kommentar

Referent/in: Gangolf Hübinger


Abstract

Das Panel setzt sich zum Ziel, interdisziplinär zwischen Vertretern einer neuen Ideengeschichte, der Wissenschaftsgeschichte und -soziologie sowie der Politikwissenschaften klassische Werke der kritischen Theorie in ihren Entstehungszusammenhang der Zeiterfahrung von Exil und Remigration einzuordnen. Die verschiedenen Untersuchungsebenen in der Verarbeitung der nationalsozialistischen Erfahrung durch die empirische Sozialforschung sollen auf ihren Aussagewert über den nationalsozialistischen Antisemitismus, die Bedeutung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen und die deutsche Mentalität der „Sachlichkeit“ als Signum des Nationalsozialismus befragt werden. Dabei soll der grenzüberschreitende Charakter der empirischen Forschungsarbeit und der Theoriebildung auf mehreren Ebenen untersucht werden.

Die Fragestellung des Panels richtet sich erstens in einem Ansatz, der Wissenschaftsgeschichte neu zu fassen versucht, auf die Praxis der kritischen Theorie. Bisher wurden in erster Linie die theoretischen Texte zum Kernparadigma der kritischen Theorie als einer Theorie der Gesellschaft auf ihren Aussagewert hin überprüft. Jüngere Forschungen, wie sie im Panel vorgestellt werden sollen, haben sich jedoch den praktischen Verwendungskontexten der empirischen Forschungsarbeiten des emigrierten und remigrierten Instituts für Sozialforschung unter der Leitung von Max Horkheimer zugewandt. Inspiriert sind einige dieser Arbeiten von der These der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael), worunter die langfristige Päsenz wissenschaftlicher Experten und ihrer Ordnungsvorstellungen in der gesellschaftlichen Praxis zu verstehen ist. Das Panel fragt demnach nach diesen konkreten Verwendungsorten und -kontexten sowie nach der empirischen Forschungspraxis des Instituts. Dabei werden verschiedene Auftraggeber in den Blick genommen. 

Zweitens fragen die Beiträge des Panels nach dem transatlantischen Transfer, der in Anknüpfungen an jüngere Forschungen in beide Richtungen untersucht wird. Einerseits wird nach dem Ideentransfer von europäischen Emigranten in die Kontexte des Gastlandes, in unserem Fall in die USA, gefragt. Andererseits ist zu prüfen, inwiefern mit der Remigration des institutionellen Kerns, des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, ein Transfer von Forschungskonzepten, -methoden und Ideen zur Amerikanisierung und Westernisierung der frühen Bundesrepublik beitrug. 

Drittens werden in den angekündigten Beiträgen intellektuelle Netzwerkbildungen und Diskurskoalitionen als spezifische Akteurskonstellationen untersucht, die die Nutzung von Wissenschaft und Politik als Ressourcen (Mitchell G. Ash) füreinander ermöglichten. Hier sollen einerseits die grenzüberschreitenden Kooperationen zwischen emigrierten Wissenschaftlern und etablierten Institutionen der USA, andererseits aber auch zwischen Besatzungsinstitutionen sowie politischen Institutionen in der BRD und den remigrierten Forschern untersucht werden.

Das 1924 gegründete Frankfurter Institut für Sozialforschung erhob unter der Leitung des Sozialphilosophen Max Horkheimer ab Ende der 20er Jahre einen interdisziplinär verfahrenden Materialismus, der die Ansätze von Soziologie, Geschichtswissenschaft, Ökonomie und Psychonanalyse unter der theoretischen Anleitung der Philosophie vereinigen sollte, zum Leitbild der wissenschaftlichen Praxis. Bereits mit der ersten empirischen Studie, Erich Fromms Untersuchung über „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ (1929-31) begann es diesen Anspruch einzulösen. Angeregt durch diese Forschungen und beeinflusst durch die Epochenerfahrung der nationalsozialistischen Machtergreifung wandte sich das Institut nach der Emigration der Erforschung des autoritären Sozialcharakters (1936) zu.

Als im Krieg die Stiftungsmittel zur Neige gingen, suchte das Institut nach neueren Kooperationspartnern in Amerika, um den nationalsozialistischen Antisemitismus als epochale Herausforderung zu untersuchen. Zunächst stand dabei der deutsche Antisemitismus im Vordergrund. Aufgrund der Aushandelungsprozesse mit den Drittmittelgebern verschob sich aber der Aufmerksamkeitshorizont auf den innergesellschaftlichen Antisemitismus, von dem man annahm, dass er in der Kriegszeit zunehmen könne. In Kooperation mit dem Jewish Labor Committee machte man sich in Folge an die Untersuchung des Antisemitism among American Workers (1944). Diese wichtige Arbeit blieb jedoch unpubliziert. Als zweiter wichtiger institutioneller Unterstützer erwies sich das American Jewish Committee, das zum Förderer der fünfbändigen Studies in Prejudice wurde, unter denen als Markstein der Entwicklung der empirischen Sozialforschung das Gemeinschaftswerk The Authoritarian Personality herausragt.

Während einige Forscher aus dem Umfeld des Instituts für Sozialforschung wie Theodor W. Adorno, Paul Massing und Leo Löwenthal im Rahmen der Studies in Prejudice unterkamen, wechselten andere Wissenschaftler in amerikanische Regierungsdienste. Franz L. Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer gingen nach Washington zur Research and Analysis Branch des Office of Strategic Services (OSS). Hier legten sie Expertisen zur nationalsozialistischen Gesellschaft vor und waren an Planungen für die Militärregierung und die Nürnberger Prozesse beteiligt. Im Panel sollen ausgehend von einer Studie zur deutschen Mentalität von Herbert Marcuse die wissenschaftlichen und politischen Konsequenzen des Einsatzes in der amerikanischen „Gegnerforschung“ untersucht und dabei die Verbindungslinien zur Nachkriegstätigkeit der OSS-Experten in den Mittelpunkt gerückt werden.

In der Nachkriegszeit remigrierte mit Horkheimer, Adorno und Pollock der Kern des Instituts für Sozialforschung und sorgte für seinen Wiederaufbau in Frankfurt. In ideeller und institutioneller Kontinuität zu den Forschungen der Kriegszeit unternahmen sie eine Inventur des demokratischen Potentials der jungen Bundesrepublik. Die erste, richtungsweisende Studie war eine Untersuchung im Auftrag von HICOG, dem amerikanischen Hochkommissariat für die Besatzungszone. Dieses war durch verschiedene Umfragen auf das antidemokratische Potential der Deutschen aufmerksam geworden und beauftragte darum eine Forschergruppe von jungen Nachwuchswissenschaftlern unter der Leitung von Theodor W. Adorno damit, die Einstellung zum Nationalsozialismus, zu den Juden und der Schuld an der Judenverfolgung, zum Besatzungsregime und zur institutionellen Verfassung der Bundesrepublik mittels der methodischen Innovation der Gruppendiskussionsmethode zu erheben. Die Gruppendiskussionsprotokolle sind eine ausgezeichnete Quelle zur Mentalitätsgeschichte der jungen Bundesrepublik. Mittels der Erhebungsmethode wurde das weitreichende Vorherrschen von Phänomenen der Abwehr offenbar.

Mittels des Gruppendiskussionsverfahrens erforschten die Frankfurter Sozialwissenschaftler in den Folgejahren so unterschiedliche Gegenstände wie die Hörereinstellungen von Radiohörern oder die  Einstellung der Arbeiter zu Fragen der betrieblichen Mitbestimmung. Relevant waren diese Themen, weil es immer um die Reichweite der Zustimmung zu demokratischen Institutionen und Ordnungsvorstellungen ging. Im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung (damals noch Heimatdienst genannt) untersuchte das Frankfurter Institut in Anknüpfung an die Untersuchungsergebnisse aus den Studies in Prejudice auch die Einstellungen zur Demokratie unter Wehrmachtsveteranen. Gerade vor dem Hintergrund der heutigen Debatten über antisemitische Einstellungen im deutschen Militär im Kontext der Untersuchung des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges erscheinen diese Untersuchungen des demokratischen Potentials der Spätheimkehrer von besonderer Bedeutung für die Analyse von Vergangenheitspolitik in der frühen Bundesrepublik.

Vorträge Epoche
Autoritäre Einstellungen bei Arbeitern und Angestellten am Vorabend des Dritten Reiches Neuere/Neueste Geschichte
Der "potentielle Faschist" - Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie Neuere/Neueste Geschichte
Die Praxis und Dialektik der Aufklärung - Kritische Theoretiker als amerikanische "Gegnerforscher" Neuere/Neueste Geschichte
Das Gruppenexperiment des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Neuere/Neueste Geschichte
Die Heimkehrerstudie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Neuere/Neueste Geschichte