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Vortragstitel:
Die Praxis und Dialektik der Aufklärung - Kritische Theoretiker als amerikanische "Gegnerforscher"
Tag:
29.09.2010
Epoche:
Neuere/Neueste Geschichte
Sektion:
Die antidemokratische Mentalität im Blickfeld der kritischen Theorie

Abstract:

Die Praxis und Dialektik der Aufklärung - Kritische Theoretiker als amerikanische "Gegnerforscher": Von der "neuen deutschen Mentalität" zur Entspannungspolitik im Kalten Krieg

Referent/in: Tim B. Müller, Berlin


Abstract

Ein Teil der Gelehrten-Intellektuellen, die im amerikanischen Exil mit dem Institut für Sozialforschung verbunden waren, wurde nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges von amerikanischen Geheimdiensten rekrutiert – allen voran Herbert Marcuse, Franz Neumann und Otto Kirchheimer. Im Mittelpunkt ihrer Gegnerforschung in den Staatsapparaten stand die Frage, welchen politisch-kulturellen Schaden der Nationalsozialismus in Deutschland angerichtet hatte, worin die Ursachen dafür bestanden und wie sie zu beheben wären. Herbert Marcuses Memorandum „The New German Mentality“ (1942) etwa legte eine präzise Deutung der Dialektik von Binnenrationalität und Ideologie vor, die als mentalitätsgeschichtliche Ergänzung zu Franz Neumanns „Behemoth“ (1942/44) zu lesen ist. Diese Analysen wurden zur Vorbereitung der Besatzungsherrschaft und zur Konzeptionierung der Re-education genutzt. In transformierter Gestalt kamen diese Deutungen jedoch ein zweites Mal zum politischen Einsatz – im Kalten Krieg, an dessen Anfang  Marcuse und Neumann wichtige Expertenfunktionen im amerikanischen State Department innehatten. Als einflussreicher Deuter des Weltkommunismus erst in der geheimdienstlichen und dann in der regierungsnahen, stiftungsfinanzierten Gegnerforschung nutzte Marcuse die in der Aufklärung NS-Deutschlands entwickelten Analyseraster, um die Entwicklung in der Sowjetunion zu prognostizieren – mit fundamental abweichenden politischen Konsequenzen. Marcuse gehörte zu einer Gruppe von amerikanischen „Sowjetologen“, die schon früh das Liberalisierungs- und Reformpotential des Ostblocks betonten, langfristig eine Ende des Kalten Krieges für möglich hielten und dadurch zu Vordenkern der Entspannungspolitik wurden.