Christoph Michels Klaus Freitag (Sektionsleitung)

Die Griechen und die Macht der Zahlen. Zahlen und Zahlenangaben in der griechischen Antike und ihre Interpretation in der Forschung

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Abstract

In heutigen öffentlichen Debatten sind Zahlen allgegenwärtig; sie entwickeln mitunter gar ein Eigenleben. Wo Datengrundlagen fehlen, werden sie angemahnt, und es wird über die Verfahren zur Generierung von Zahlen gestritten. Welcher Stellenwert indes Zahlen sowohl bei der Gestaltung der Zukunft als auch bei der Konstruktion der Vergangenheit zugemessen wird, ist kulturspezifisch determiniert und nicht statisch festgeschrieben.

Wie fruchtbar es für die Kulturgeschichte des antiken Griechenlands sein kann, zu untersuchen, was wie und warum von wem gezählt wurde und wie man die entsprechenden Ergebnisse kommunizierte, hat sich erst in den letzten Jahrzehnten in vollem Umfang gezeigt. Während etwa früher zu Zahlenangaben in der griechischen Literatur vor allem betont wurde, dass Historiographen mit Plausibilitäten und übertriebenen Zahlen operierten, sich also einer pseudoexakten Arbeitsweise bedienten, um Autorität zu erzeugen, wird dies heute differenzierter betrachtet. So wurden Zahlen u.a. als Mittel genutzt, um hinsichtlich von Raum und Zeit die Stufen und Modalitäten von Sicher- und Unsicherheit von Wissen zu verdeutlichen, und sie reflektieren eine intensivierte Beherrschung des Raums. Gleichzeitig stellt sich die Frage, woher die in der antiken Literatur genannten Zahlen stammen, bzw. inwiefern in den von zunehmender Schriftlichkeit geprägten Poleis ‚statistische‘ Daten (wie Geburts- und Sterberegister und Militärkataloge) erhoben wurden und ob diese öffentlich zugänglich waren. Quantifizierung und Kalkulation waren für politische Entscheidungsprozesse jedenfalls immer mehr von Bedeutung.

Die Sektion spürt zum einen den Wechselwirkungen zwischen der Generierung von Zahlen in den griechischen Poleis und ihrer Diskursivierung nach, d.h. auch den Methoden des Zählens und der Verwendung von Zahlenangaben in Dichtung und Prosaliteratur. Zum anderen werden quantitative Methoden in der modernen Forschung und die Grundlagen des für historische Interpretationen rekonstruierten und konstruierten Zahlenmaterials reflektiert.

Robin Osborne (Cambridge)
Epigraphic numbers: who counted what and why?

Greek cities use inscriptions both to record decisions, to register who has been involved in particular activities, and to set down what should be or has been spent. But just as not every decision gets written up on stone, and not every individual involved in running a city has their name formally listed, so what expenses get recorded is selective, and the selection varies from place to place and time to time. This paper examines the use of numbers in Classical Athens and to account for what is being counted, illuminating Athenian practice by comparison with that of cities elsewhere.

Roberta Fabiani (Rom)
Von archivalischen Notizen zu öffentlichen Inschriften. Einige Überlegungen zur strukturierenden Kraft von Zahlen in griechischen Inschriften

Im Mittelpunkt des Vortrags steht die Frage, ob und unter welchen Umständen sich Zahlen auf die Struktur epigraphischer Texte auswirkten. Eine solche strukturierende Kraft der Zahlen scheint manchmal ganz zu fehlen, zuweilen ist sie nur rudimentär erkennbar.

An mehreren Fallbeispielen lässt sich indes ein gestalterischer Aufwand im Übergang von der archivalischen Erfassung zur öffentlichen Kommunikation von Zahlen nachvollziehen. Ob bei Schenkungen oder Wettkampfsiegen, die Anordnung der Zahlen stellte mitunter eine narrative Strategie dar, die darauf abzielte, die Verdienste und das Ansehen des Auftraggebers oder des Geehrten (Person oder Gemeinschaft) der Inschrift hervorzuheben.

Christoph Michels (Münster)
Zwischen Expertenhabitus und Transparenz. Zahlen und Zählen bei den attischen Rednern

Der Vortrag behandelt die Performanz von Zahlenangaben und Alltagsmathematik auf der politischen Bühne des demokratischen Athen. Obgleich die Zurschaustellung von Expertise den Rhetoren half, Autorität vor Volksversammlung und Gerichtshöfen zu generieren, gehörte es gleichermaßen zu den Spielregeln der politischen Debatten, in den Reden keine allzu große Kluft zu den Versammlungsteilnehmern aufkommen zu lassen. Die rhetorische Einbindung von mathematischen Operationen in den Argumentationsgang offenbart dabei Mechanismen der Interaktion des Rhetors mit dem Publikum und damit der Grundlagen politischer Willensbildung der Versammlungsdemokratie.

Athena Kirk (Cornell)
Toward a Poetics of Counting in Greek Poetry

Scholarship of the past two decades has made clear that the ancient Greeks engaged in modes of counting different from our own, and for a variety of purposes other than our own (e.g. Netz 2002, Cuomo 2012). The technical and cultural operations of numbers in the literary tradition, however, have received less attention. This paper outlines a poetics of counting and numeracy in three poets: Homer, Aristophanes, and Callimachus. In these works, I argue, we can trace an evolving relationship of numeracy to power, in which facility with numbers at first signals political and social authority but subsequently signals something increasingly complex.

Klaus Freitag (Aachen)
Die Zahlen von Flottenkontingenten im Geschichtswerk des Thukydides

In dem Vortrag wird der Befund diskutiert, dass der Athener Historiograph, der einst selbst das Kommando über eine Flotte hatte, in seinem Werk viele Zahlen von Flottenkontingenten überliefert. Welche Bedeutung kommt aber diesen Zahlenangaben zu? Es wird immer wieder behauptet, dass (pseudoexakte) numerische Details bei antiken Historikern vor allem mit einer gewissen Realisierungssucht und einem Autorisierungsgestus zu erklären sind. Dies lässt sich mit Blick auf die Arbeitsweise des Thukydides differenzieren, nutzt dieser doch Zahlen, um Sicherheit bzw. Unsicherheit von Wissen über historische Abläufe zu verdeutlichen und um als Maßstab für Erwartungen und Erfolgsaussichten der Beteiligten zu dienen.

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