Tiere als Verlierer der Moderne? Der Wandel der Beziehung zwischen Menschen und Tieren im interdisziplinären Blick

MICHAELA FENSKE (Göttingen) und WINFRIED SPEITKAMP (Kassel)
Einführung

ANNE-CHARLOTT TREPP (Kassel)
Tiere als „sakrale Dinge” (17. und 18. Jahrhundert)

ALINE STEINBRECHER (Konstanz)
„Die Hunde einzig und allein bey den Menschen wohnen”. Zur Rolle der Hunde im städtischen Kontext (1650-1850)

BARBARA KRUG-RICHTER (Saarbrücken)
Zur Formung des tierischen Körpers am Beispiel der Hundezucht (19. und 20. Jahrhundert)

LUKASZ NIERADZIK (Wien)
„Tierisch gesund, tierisch krank”. Versuch eines körper- und medizinhistorischen Zugangs zur Erforschung von Mensch-Tier-Beziehungen im Wiener Fleischgewerbe des 19. Jahrhunderts

WERNER TROSSBACH (Kassel)
Entstehung und Rolle der Kuhanspannung in deutschsprachigen Territorien. Ein vergessenes Element der Agrarrevolution

BEATE BINDER (Berlin) und CLEMENS WISCHERMANN (Konstanz)
Kommentar

Abstract:
Die Human-Animal-Studies haben sich in den letzten Jahren auch in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften als neue Forschungsrichtung etabliert. Die in dieser Sektion vertretenen Disziplinen (Geschichtswissenschaft und Europäische Ethnologie) haben diese Entwicklung maßgeblich mitgetragen. Die Tiergeschichte beginnt Fuß zu fassen, wie sich etwa am regen Erscheinen von Sondernummern deutschsprachiger kulturwissenschaftlicher Zeitschriften zeigt. In Perspektivverschiebung zu den bisherigen Studien über das Mensch-Tier-Verhältnis geht es dem interdisziplinären Forschungsfeld der Human-Animal-Studies um eine grundsätzliche Neubestimmung des wissenschaftlichen Blicks auf Tiere. Denn „das Tier“ als Kategorie ist nach wie vor ein blinder Fleck in den Geistes- und Kulturwissenschaften, zumal es jenseits seiner phänomenologischen Attraktivität erst in Ansätzen theoretisiert worden ist: Was ist etwa genau gemeint, wenn wir von einem Tier sprechen? Das fleischliche, lebendige Wesen? Und kann man erweitert dazu auch seine fossilen Überreste oder das aus seinem Körper hergestellte Präparat – sei es als Medizin, als museales Objekt oder als Trophäe über dem Kamin – als Tier verstehen? Eine theoretische Verortung der Kategorie Tier findet in der Regel unter Rückgriff auf postmoderne Theorienangebote wie Donna Haraways Konzept einer „co-constitutive relationship“, Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, Jacques Derridas Nachdenken über die anthropozentrische Fassung des Tieres bereits in der menschlichen Sprache oder Giorgio Agambens Verständnis des Mensch-Tier-Verhältnisses als „anthropologischer Maschine“ statt. Hier wird das Tier als ein mit eigener Handlungs- und Wirkungsmacht ausgestattetes Lebewesen betrachtet. Zur Erklärung historischer Subjektivität reichen diese theoretischen Zugänge allerdings noch nicht aus. Die soziologischen Konzepte sind vielmehr mit der Konsultation des Archivs als Speicher und als Ort von Wissensproduktion zu verbinden. Tiere haben ihre Spuren in einer Vielzahl von Quellengattungen hinterlassen; dies zeigen auch die Beiträge der beantragten Sektion. Zwar handelt es sich um von Menschen dokumentierte Spuren, doch wäre es ein Fehlschluss, die Fährten, die sie als Gefährten der Menschen gezogen haben, aus methodologischen oder konzeptionellen Gründen zu vernachlässigen – schließlich sind auch viele Menschen und Menschgruppen nur indirekt in den schriftlichen Quellen präsent. Die Suche nach den Quellen einer Tiergeschichte führt also zum Menschen und dennoch nicht vom Tier weg.
Somit wird klar, dass die von den Human-Animal-Studies geforderte Perspektivverschiebung nicht nur Potenziale zur Neuerfassung dessen, was Menschen unter Tieren verstehen, anbietet, sondern auch die Frage aufwirft, was mit eigener Handlungsmacht ausgestattete Tiere mit und aus Menschen machen beziehungsweise gemacht haben. Dies gestattet neue Zugänge zum Verständnis der Möglichkeiten des Mensch-Seins.
Die Sektion möchte sowohl einen Einblick in das sich etablierende Forschungsfeld der Human-Animal-Studies geben als auch exemplarisch auf zentrale Bereiche der Forschung (Haus- und Nutztierhaltung, Zucht, Schlachthof sowie Naturalienkammer) eingehen. Unter der Perspektive des Verlierens und Gewinnens lässt sich in diesen Untersuchungsfeldern fragen, ob der, die tierlichen und menschlichen Lebensverhältnisse tiefgreifend verändernde, Wandel im Zuge der europäischen Moderne aus Sicht tierlicher Akteure als eine Verlustgeschichte betrachtet werden kann. Die Verdrängung vieler Tiere aus den öffentlichen Räumen (und die damit verbundene „Privilegierung“ weniger Arten als Haus- und Schmusetiere), die Formung der Haustiere, die industrielle Gestaltung und Haltung sogenannter Nutztiere, die Verfolgung, Ausbeutung und Ausrottung sogenannter Wildtiere legen den Schluss nahe, Tiere als eigentliche Verlierer der Moderne zu betrachten. Umgekehrt ließe sich möglicherweise auch fragen, was Menschen im Zuge der Modernisierung mit Blick auf ihre tierlichen Mitgeschöpfe verloren haben. Ist beispielsweise der Verlust eines in der Gesellschaft verankerten Wissens um Zusammenhänge und Ausdrucksformen des Lebens und Sterbens eine Folge dieser Entwicklung, und haben sich die Menschen möglicherweise auch um Möglichkeiten kognitiver und intellektueller Entwicklung in tierlich-menschlicher Gefährtenschaft beraubt?
Die Sektion möchte die Potentiale der Human-Animal-Studies mit Blick auf die Frage nach Gewinnern und Verlieren, vor allem aber nach alternativen heuristischen Konzepten zum Verständnis historischer Entwicklungen seit Beginn der Moderne beziehungsweise der Konstruktion von Deutungen des Vergangenen diskutieren. Da die Sektion epochenübergreifend und disziplinenübergreifend (darunter auch Mitglieder des neuen Kasseler LOEWE-Schwerpunktes „Tier-Mensch-Gesellschaft“) angelegt ist, kann eine Vielfalt unterschiedlicher Mensch-Tier Beziehungen in historischer Tiefe erfasst werden. Zudem möchten die Vertreter/innen aus der Europäischen Ethnologie und den Geschichtswissenschaften, die Möglichkeiten und Perspektiven der Human-Animal-Studies auch gemeinsam mit den anwesenden Kolleg/innen diskutieren.

English Version:
In recent years, the discipline of human-animal studies has become established within cultural studies, including in the German-speaking research context, as a new area of research. The disciplines featured in this panel, history and European ethnology, have been key drivers of this development. The frequent publication of special issues of German-language cultural studies journals on the history of animals bears witness to the increasing acceptance of the field as a subdiscipline within academic history. The interdisciplinary field of human-animal studies approaches the relationship between humans and animals from a different perspective than has previous research in the area; it is interested in fundamentally reassessing the way in which academic research looks at animals. The category of “animals” remains effectively in a “blind spot” of the humanities and cultural studies. Attempts to create a theory of this category that goes beyond its evident phenomenological appeal have thus far generally remained embryonic. What do we mean exactly when we speak of an animal; do we mean the concrete, living being of flesh and blood, or can we extend the term to encompass fossils or the products extracted by humans from that living being’s body, whether it be a medicinal substance, a museum exhibit or a hunting trophy? Any theoretical exploration of the category of “animal” generally takes place with reference to postmodernist theories such as Donna Haraway’s idea of a “co-constitutive relationship”, Bruno Latour’s actor-network theory, Jacques Derrida’s thought on the anthropocentric manner in which human language conceives of “the animal”, and Giorgio Agamben’s definition of the relationship between humans and animals as an “anthropological machine”. These theories view animals as living beings possessed of their own agency and ability to influence the world around them. However, these theoretical approaches to the issues do not shed sufficient light on historical subjectivity as it relates to animals; sociological concepts in this arena instead reference archives both as repositories of knowledge and as sites of its production. Animals, as the contributions to this panel demonstrate, have left traces in sources from a large number of genres. While these traces have been documented by people, we would be wrong to neglect them, created as they were by animals as companions of people, for reasons related to methodology or to our own concepts of animals; many people and human groupings, after all, are themselves present only indirectly in written historical sources. In other words, our search for sources for a history of animals leads us to people – but not away from animals themselves.
We can see, then, that the shift in perspective called for by the discipline of human-animal studies not only paves the way to a reconceptualisation of what we understand to be an “animal”, but also raises questions as to what animals, possessed of their own agency, have done with and have made of human beings; this in turn allows us to access new ideas about what being human means and what possibilities our being thus opens up.
The panel intends to provide insights into the emergent research field of human-animal studies as well as presenting exemplary explorations of issues from key areas of research in the discipline, such as the keeping of pets and livestock, the breeding and slaughter of animals and natural history collections. We might ask, viewing these research areas in the context of winning and losing, whether the sweeping change which took place with the advent of European modernity, wreaking profound transformations in the way people and animals lived, might be regarded, from the point of view of animals, as a narrative of losing. The exclusion of a great number of species from the public space, with a few remaining as “privileged” pets subject themselves to a process of domestication; the industrial-scale keeping of animals for human use and their shaping for this use by means of human practices; and the persecution, exploitation and extermination of “wild” animals certainly imply that we might view animals as the real “losers” of the modern age. Conversely, we might ask what human beings have lost in the course of the evolution of modernity in regard to their fellow creatures. For instance, might the loss of an awareness, once rooted in the everyday life of our societies, of expressions of life and death and relationships between the two be a consequence of how our world has developed in the modern age, and have people, in undergoing this development, perhaps robbed themselves of opportunities for cognitive and intellectual development in companionship with animals?
The panel will explore the potential of human-animal studies to illuminate questions around winners and losers of modernity as well as undertaking the principal task of attempting to identify alternative heuristic concepts to enable us to understand historical developments since the outset of the modern age or, to put it another way, to comprehend constructions or interpretations of the past. The panel, seeking as it does to make thorough historical investigations of a diverse range of different relationships between humans and animals, is interdisciplinary in nature and extends across historical epochs, and includes members of the new research group on “Animals – Humans – Society” (Tier-Mensch-Gesellschaft) funded by the LOEWE excellence initiative and based at the University of Kassel. The panel members, representing the disciplines of history and European ethnology, hope to engage in discussion with session attendees on the research potential of human-animal studies and the positions it currently occupies in the research landscape.