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Vortragstitel:
Literarische Gewaltbilder als Medien moralischer, politischer und kultureller Grenzziehungen
Tag:
01.10.2010
Epoche:
Alte Geschichte
Sektion:
Grenzen der Gewalt

Abstract:

Literarische Gewaltbilder als Medien moralischer, politischer und kultureller Grenzziehungen

Referent/in: Martin Zimmermann, München


Abstract

Für antike Gesellschaften war naturgemäß die Kontrolle physischer Gewalt grundlegendes Element der Gemeinschaftsbildung. Sie erfolgte durch Gesetzgebung, Institutionalisierung der Rechtsprechung, Strafkataloge und ihre Exekution, also die noch heute üblichen Formen staatlicher Lenkung, Kontrolle und Sanktion. Neben der juristisch gefassten Regelung und ihrer Durchsetzung in der Exekutive hat man sich in der Antike freilich in sehr vielfältigen anderen Formen über Gewalt verständigt. Dies geschah in performativen Akten, Ritualen, in Bildwerken und in besonders vielfältiger Art auch in den Schriften unterschiedlicher literarischer Gattungen. Neben den Tragödien und der Epik spielte insbesondere die Geschichtsschreibung eine zentrale Rolle bei der Beantwortung der Frage, welche Formen von Gewalt legitim und illegitim sind. Dabei ging es selbstverständlich um die Gestaltung des verträglichen Zusammenlebens, aber auch um die Abgrenzung der eigenen Gemeinschaft von anderen.
Die Autoren beschränken sich freilich nicht auf diese beiden Aspekte, sondern nutzen die Gewaltdiskurse für vielfältige andere Ziele und Zwecke. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass die Urteile über legitime und illegitime Gewalt nicht unmittelbar ausgesprochen werden, sondern hinter literarischen Bildern verborgen werden. In den historiographischen Gewaltdiskursen wurde zu diesem Zweck eine spezielle Wirkungsästhetik entwickelt, für deren Umsetzung Anleihen aus anderen Gattungen antiker Literatur vorgenommen und zum anderen eigene Formen der Darstellung entwickelt wurden. Sie begegnet in Form von Textpassagen, die extreme Formen körperlicher Gewalt mit einer oft ins Absurde abgleitenden Detailversessenheit schildern. Sie stellen den Historiker vor das Problem, mit Bildern und Berichten konfrontiert zu werden, die zum Zwecke der genannten Verständigung rein fiktiv sind und nichts mit den tatsächlichen Vorfällen mehr zu tun haben. Dies ist bei Berichten, die medizinisch Unmögliches überliefern, schon auf den ersten Blick deutlich, gilt aber auch für viele andere Erzählungen, in denen haarsträubende Grausamkeiten überliefert werden. Die schon in der Antike geführten Debatten darüber, ob solche Horrorgemälde in ein Geschichtswerk gehören, lassen erkennen, dass hinter solchen Gemälden immer politische Interessen stehen, die man mit Hilfe einer bisweilen bizarren Phantasie erreichen möchte. Gerade bei der Präsentation von extremer physischer Gewalt kann besonderes Engagement entwickelt und in blutige Bilder umgesetzt werden, wobei mit einem besonders hohen Wirkungsgrad gerechnet werden kann. Anhand der Darstellung kaiserlicher Folterpraxis und militärischer Konflikte lässt sich exemplarisch zeigen, welche Wirkungsabsichten mit welchen Mitteln erreicht werden sollten.
Mit einer Analyse solcher Horrorszenarien kann demnach nichts über den Akt physischer Gewalt in Erfahrung gebracht werden. Dafür eröffnen sie vielfältige Möglichkeiten, hinter der Erzählung stehende Absichten zu ermitteln und politische Konflikte zu diagnostizieren sowie juristische wie moralisch-ethische Aushandlungsprozesse zu beschreiben. Die Beschäftigung mit den Horrormotiven in der Geschichtsschreibung eröffnet die Chance, in ganz unterschiedlichen Feldern neue Einsichten zu gewinnen. Sie sind ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis antiker Kulturen. Dies gilt etwa für die innenpolitischen Konflikte zwischen unterschiedlichen politischen Gruppierungen, für die Frage, wie physische Gewalt gegenüber Unterworfenen geregelt und beschränkt wurde, wie politische Partizipation und Teilhabe eingefordert wurde, wie Identität definiert wurde, sich demnach eine Gruppe oder Gemeinschaft von anderen abgrenzte und vieles andere mehr. Die ostentative Verweigerung oder Gewährung von Mitleid in solch fiktiven Erzählungen etwa offenbart Prozesse der Inklusion und Exklusion einer Gesellschaft. Über die Beantwortung solcher Fragestellungen hinaus ist daher von hohem historischen Interesse, dass die antiken Autoren Darstellungsstrategien entwickelt haben, die bis heute wirksam sind. In der Antike sind die Muster und Blaupausen entstanden, mit denen noch heute vergleichbare Aushandlungsprozesse geführt werden.