Grenzen der Gewalt – Definition, Repräsentation und Einhegung eines universalen Phänomens in antiken Kulturen

(01. Oktober 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 2.301)

Leitung: Prof. Dr. Werner Riess (Chapel Hill) / Prof. Dr. Martin Zimmermann (München)



1. Literarische Gewaltbilder als Medien moralischer, politischer und kultureller Grenzziehungen

Referent/in: Prof. Dr. Martin Zimmermann, München


2. Bilder der Gewalt – Annäherung an eine historische Interpretation medialer Gewalt

Referent/in: Prof. Dr. Susanne Muth, Berlin


3. Ritualisierungen von Gewalt im Athen des 4. Jhs. v. Chr.

Referent/in: Prof. Dr. Werner Riess, Chapel Hill


4. The Shifting Boundaries of Violence: Four Cultural Models for Going to War in Greek and Roman Antiquity

Referent/in: Prof. Dr. Jon Lendon, Charlottesville / Heidelberg


Abstract

In den letzten Jahren hat sich die kulturwissenschaftlich orientierte altertumswissenschaftliche Forschung verstärkt dem Thema „Gewalt“ zugewandt. Hierbei besticht vor allem die Vielfalt der Fragestellungen und methodischen Ansätze. Drei Hauptschwerpunkte lassen sich ausmachen:

In bewusster Abkehr von einer oft normativ operierenden, traditionellen griechischen und römischen Rechtsgeschichte betonen Kulturwissenschaftler heute verstärkt den aushandelbaren Charakter jeglicher Gewaltdefinition. Sie wird als dynamisches Konstrukt verstanden, das von sozialen, kulturellen und politischen Faktoren determiniert wird. Wer hat unter welchen Bedingungen die Handlungsmacht, eine für ein Gemeinwesen verbindliche Grenze zwischen noch akzeptabler und nicht mehr hinnehmbarer Gewalt zu ziehen? Wie wird aus einer Konvention und einem kulturellen Code schließlich eine allgemein anerkannte Norm? Wie wird diese an die Gemeinschaft kommuniziert und abgesichert? Wann und unter welchen Umständen bricht diese symbolische Grenze zwischen legitimer und illegitimer Gewalt zusammen? Welche Gruppen werden zu welchem Zweck geschützt, welche jedoch bleiben schutzlos? Dieser Problemkreis berührt Strategien der Inklusion und Exklusion in antiken Kulturen. Bei der Verfolgung dieser ersten Fragestellung sind Altertumswissenschaftler mit spezifischen Quellenproblemen konfrontiert. Sowohl literarische als auch archäologische Quellen sind stark diskurslastig, d.h. sie arbeiten mit zum Teil sehr langlebigen Topoi und Stereotypen bzw. medialen Konventionen, die eine Analyse des „Gewaltgeschehens“ hinter den Diskursen erschweren. 

Ein eigenständiger, zweiter Forschungszweig beschäftigt sich mittlerweile mit der Repräsentation von Gewalt, ihrer medialen Vermittlung sowie den zugrundeliegenden Tendenzen und Strategien in der griechischen und lateinischen Literatur sowie in athenischen Vasendarstellungen, der wohl in dieser Hinsicht aussagekräftigsten Bildgattung der Antike. 

Der dritte Schwerpunkt betrifft die Frage nach der Einhegung der Gewalt selbst, ein für vormoderne Gesellschaften typischer Problemkomplex. Wie war es den griechischen Polisgesellschaften und dem Imperium Romanum möglich, Recht und Ordnung ohne reguläre Polizeikräfte Geltung zu verschaffen? Reichen die Parameter der Existenz eines mehr oder weniger effizienten Rechtssystems und Gerichtswesens sowie der Sozialkontrolle aus, um die weitgehende Befriedung im Inneren und die zivilisatorische Leistung dieser Kulturen zu erklären? Müssen wir nicht verstärkt nach weiteren informellen Regulierungsmechanismen, jenseits der Sozialkontrolle fahnden, wie etwa Ritualisierungen von Verhaltensformen auf verschiedenen Ebenen und die Internalisierung von Normen und Wertvorstestellungen durch die Teilhabe an Erziehung und kulturellen Praktiken wie etwa Theaterbesuch und Kultvollzug.

Die spezifischen thematischen und inhaltlichen Schwerpunkte, welche die einzelnen Referenten in Verfolgung ihrer jeweiligen Erkenntnisziele setzen, werden insgesamt auf den skizzierten grundlegenden Fragestellungen beruhen. Diese Sektion setzt sich damit zum Ziel, grundlegende Einsichten in das Gewaltverständnis antiker Kulturen zu gewinnen und an ein breiteres Fachpublikum zu vermitteln.

In seinem die Sektion eröffnenden Referat „Literarische Gewaltbilder als Medien moralischer, politischer und kultureller Grenzziehungen“ befasst sich Martin Zimmermann mit der Darstellung extremer Gewaltszenen in der antiken Historiographie. Anhand obsessiver, die physiologischen Gegebenheiten der conditio humana sprengenden Beschreibungen von Kriegsszenarien und Foltermethoden römischer Kaiser kann Zimmermann die ganze Diskurshaftigkeit antiker Geschichtsschreibung sinnfällig vor Augen führen und damit die methodischen Probleme umreißen, denen Althistoriker bei der Verfolgung ihrer Erkenntnisinteressen begegnen. Die Einsicht, dass diese extremen Gewaltdarstellungen recht wenig über die eigentlich geübte Gewalt aussagen, mündet jedoch nicht etwa in der Aporie, sondern ist als Aufruf zu verstehen, den Tendenzen hinter den Diskursen nachzuspüren. Gerade hier eröffnet sich ein breites Betätigungsfeld für den Historiker. In der Tat sind in der antiken Geschichtsschreibung die impliziten Grenzziehungen zwischen legitimer und illegitimer Gewalt auszumachen. Diese Grenzziehungen wiederum erlauben uns Einblicke in die ihnen zugrundeliegenden dynamischen Aushandlungsprozessse, die erst definierten was „normales“ Verhalten, Gewalt und extreme Gewalt war. Diese Aushandlungsprozesse, die man also sehr wohl in den antiken Gewaltdiskursen greifen kann, verraten uns viel über die sozialen, politischen und kulturellen Konflikte der jeweiligen Gesellschaften und sind damit ein Seismograph für die Veränderungen von Gesellschaften und Identitäten.

Susanne Muth geht es in ihrem Vortrag „Bilder der Gewalt – Annäherung an eine historische Interpretation medialer Gewalt“ um Repräsentationsformen von Gewalt in der athenischen Vasenmalerei des 5. und 4. Jh.s v. Chr. Auf die Vasendarstellungen übertragen, setzt sie Zimmermanns Problematisierung der Diskurshaftigkeit des antiken Quellenmaterials fort. Athenische Künstler, so Muth, reagierten nicht unmittelbar auf die Zunahme bzw. Abnahme außenpolitischer Bedrohungen oder innenpolitischer Verwerfungen mit der Steigerung oder Dämpfung von Gewaltdarstellungen, sondern machten diese Schwankungen in ihrer Darstellungskunst von medieninternen Faktoren abhängig, d.h. loteten verschiedene Darstellungsmöglichkeiten im Bildmedium „Vase“ aus. Ähnlich wie bei der Historiographie erhält der Historiker also wieder keine Antwort auf das vordergründige „Warum“ der gewählten Gewaltdarstellung. Nicht einmal eine konkrete historische Verortung ist bei den Vasendarstellungen möglich. Vielmehr offenbart sich die ganze Fremdartigkeit des athenischen Sehens bzw. der Betrachterlenkung gerade in der weitgehend offenen Einstellung der Athener gegenüber Gewalt, die zumindest in ihrer Bilderwelt nicht an einer dichotomischen Scheidung von legitimer und illegitimer Gewalt interessiert waren, sondern eher eine wertneutrale Position gegenüber den Darstellungen auf den Vasen einnahmen, ein Befund, der nicht nur in seiner kunstgeschichtlichen, sondern auch in seiner historischen Tragweite noch gar nicht richtig erfasst ist.

Werner Riess begegnet in seinem Vortrag „Ritualisierungen von Gewalt im Athen des 4. Jh.s v. Chr“ dieser grundsätzlich großen Bedeutungsoffenheit der athenischen Quellen, indem er eine Gesamtschau der zur Verfügung stehenden Evidenz des 4. Jh.s unter dem Blickwinkel der interpersonellen Gewalt vornimmt. Die Vergleichbarkeit von Gerichtsreden, Fluchtafeln und Komödien besteht in der performativen Qualität ihres ursprünglichen Aufführungskontextes. Anders als im bildlichen Imaginären mussten die Athener im täglichen Leben sehr wohl die Grenzziehung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt leisten. Es ist bezeichnend, dass die Redner dies auch tun, natürlich immer zu ihren Gunsten sowie zu Ungunsten des jeweiligen Gegners, aber dass dahinter eben keine allgemeinverbindliche Norm dessen steht, was noch akzeptable bzw. bereits inakzeptable Gewalt ist. Kein athenischer Gesetzestext hat jemals den Bedeutungsinhalt von „Gewalt“ festgelegt. Vielmehr galt seine freie Aushandelbarkeit in den Gerichten geradezu als Markenzeichen der athenischen Demokratie schlechthin. Die Gerichtsreden formulieren somit einen Subtext nicht nur zur athenischen Verfassung, sondern auch und gerade zur stets flexiblen Grenze zwischen legitimer und illegitimer Gewalt. Eine ähnliche Bedeutungsoffentheit begegnet auch in den Fluchtafeln. Es mutet höchst merkwürdig an, dass die Semantik des Fluchtwortes katado (ich binde) so breit ist, dass damit ein enormes Spektrum von Negativwünschen abgedeckt ist, die vom geschäftlichen Bankrott des Nachbartöpfers bis hin zum Tod des politischen Gegners reichen konnte. Die Komödie wiederum ist als fiktionales Medium, das einen „sozialen Meta-Kommentar“ (Geertz) zur Gewalt liefert, grundsätzlich bedeutungsoffen. Ob der Zuschauer über Szenen, in denen Väter geschlagen werden oder Sokrates’ Denkfabrik abgebrannt wird, lachen oder nachdenklich gestimmt werden soll, ist nicht ausdiskutierbar. Was allen Quellengattungen jedoch gemeinsam ist, ist ihr rituelles Aushandeln legitimer Gewalt. Da Rituale jedoch nur in ihrem Vollzug Bedeutungen kreieren und vermitteln können, war die Konstruktion und Vermittlung von Gewalt mehr oder weniger definierenden Grenzen nur in der konkreten Aufführung von Gerichtsreden, Niederlegung von Fluchtafeln und Inszenierungen von Komödien möglich.

Nach dem Schwerpunkt auf Athen und der interpersonellen Gewaltanwendung weitet Jon Lendon in seinem Vortrag „The Shifting Boundaries of Violence: Four Cultural Models for Going to War in Greek and Roman Antiquity“ den Fokus: Indem er nach der Legitimierung antiker Krieger fragt, bietet er einen großen Überblick über die sich im Laufe der Zeiten verändernden Erklärungs- und Rechtfertigungsmuster griechischer und römischer Kriege. Lendon unterscheidet dabei vier kulturelle Modelle. Die Fremdartigkeit der Griechen erweist sich abermals. Selbst wenn ihre Beweggründe in den Krieg zu ziehen ökonomischer Natur waren, beharrten sie darauf, aus Rache Krieg zu führen. Die ganze ideologische Wirkkraft der homerischen Texte ist hier durch die Vorgabe eines kulturellen Paradigmas, das Jahrhunderte lang in Geltung war, sichtbar. Die Römer der Republik dagegen hingen einem ganz anderen Erklärungsschema an: Laut offizieller Propaganda wurden die Expansionskriege der Republik zum Schutz der Bundesgenossen geführt. Als das Imperium Romanum schließlich die damals bekannte Ökumene in sich aufgesogen hatte, stand die Kosten-Nutzen-Analyse ganz im Vordergrund, die von der kaiserlichen Kanzlei zu leisten war. In der Spätantike verschieben sich die Rechtfertigungsstrategien erneut. Das Prinzip der Ehre steht nun ganz im Vordergrund, ein Ergebnis der griechisch-römischen Erziehung, die ganz im Erlernen einer jahrhundertealten rhetorischen Traditon aufging. Indem Lendon die Gründe für die Ablösung eines Paradigmas durch ein anderes in sozialpolitischen wie kulturellen Veränderungen festmachen kann, wird er durch einen Rückverweis auf Zimmermann (wandelbare Grenzziehungen in Gewalt und Gewaltdarstellung, v.a. im Hinblick auf Krieg, wie er in der Geschichtsschreibung dargestellt wird) den Rahmen der Sektion abrunden und schließen.

In ihrer zeitlichen (8. Jh. v. Chr. – 5. Jh. n. Chr.), kulturellen (griechisch-römisch) und thematisch umfassenden Bandbreite (interpersonelle Gewalt, Folter, Krieg, Gewaltanwendung, Gewaltdarstellung, Ritualisierungen) deckt diese Sektion alle wichtigen Bereiche der aktuellen althistorischen Gewaltforschung ab. Gerade die Auswahlkriterien, welche antike Schriftsteller und bildende Künstler ihren Werken zugrunde legten und mit denen sie die ihnen so geläufigen Grenzen zogen, die uns oftmals so fremd anmuten, werden die an der Sektion beteiligten Kollegen exemplarisch herausarbeiten. Diese Distinktionsmerkmale verraten viel über die in der Antike herrschenden Einstellungen zu und wandelbaren Definitionen von Gewalt. Gerade in der Art und Weise, wie Gewalt konkret in unterschiedlichen Medien dargestellt wird (Historiographie, Gerichtsreden, Fluchtafeln, Komödien, Vasendarstellungen), lassen sich antike Bemühungen zur Einhegung von Gewalt bzw. Kritik an ihrer hemmungslosen Ausübung erkennen.

Vorträge Epoche
Literarische Gewaltbilder als Medien moralischer, politischer und kultureller Grenzziehungen Alte Geschichte
Bilder der Gewalt – Annäherung an eine historische Interpretation medialer Gewalt Alte Geschichte
Ritualisierungen von Gewalt im Athen des 4. Jhs. v. Chr. Alte Geschichte
The Shifting Boundaries of Violence Alte Geschichte