Der Topos des leeren Raumes als narratives Konstrukt mittelalterlicher und neuzeitlicher Einwanderergesellschaften

(30. September 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.204)


Leitung und Moderation: Prof. Dr. Matthias Asche, Tübingen / Dr. Ulrich Niggemann, Marburg



1. Der leere Raum in mittelalterlichen Narrativen zu Landnahme und Landesausbau

Referent/in: Dr. Norbert Kersken, Marburg


2. „Desert“, „Wilderness“, „End of the Earth“ – Konzepte von Wildnis in Neu- England und am Kap der Guten Hoffnung

Referent/in: Dr. Ulrich Niggemann, Marburg


3. „ein Land, worin Gott Raum gemacht“ – Wahrnehmungen und Deutungen der Einwanderung und Niederlassung Salzburger Protestanten in Preußisch-Litauen und deutscher Kolonisten im Russischen Reich

Referent/in: Prof. Dr. Matthias Asche, Tübingen


4. „they did not own the land" – die Rechtfertigung der Verdrängung der Indianer Nordamerikas im 19. Jahrhundert

Referent/in: Prof. Dr. Georg Schild, Tübingen

5. Filling the Australian Emptiness

Referent/in: Prof. Dr. Robert Kenny


Abstract

Die Geschichte von Migrationen und Minderheiten ist stets auch eine Geschichte von Grenzen und ihrer Überschreitung, aber auch ihrer narrativen Konstruktionen. Die Historische Migrationsforschung und die Vergleichende Minderheitenforschung haben in den letzten drei Jahrzehnten enorme Fortschritte erzielt. Die Forschung konnte dabei auf eine reiche – und traditionsreiche – Literatur zur Geschichte von Migrantengruppen aufbauen, so daß mittlerweile zentrale sozial- und kulturhistorische Fragestellungen nach der Etablierung, der Integration und dem Selbstverständnis von Einwanderergruppen differenziert beantwortet werden können. Schon seit längerem diskutiert die moderne kulturhistorische Forschung intensiv über zeitgebundene Identitäts- und Alteritätsdiskurse ethnischer und religiöser Minderheiten, die Erfahrung und Wahrnehmung des „Fremden“ sowie die daraus resultierende Deutung und das Selbstverständnis des „Eigenen“, über Inklusions- und Exklusionsphänomene von „In-“ und „Out-Groups“ in ethno-religiös segmentierten und fragmentierten Kultur- und Gesellschaftsformationen der Neuzeit.

Die Sektion wird einen Beitrag zu diesen Forschungsdiskursen leisten, zugleich aber auch über bisherige Fragehorizonte und -ansätze hinausgehen, indem in einem chronologischen Längsschnitt – zudem unter einem dezidiert komparatistischen Blickwinkel – nach spezifischen Geschichtsbildern und Ursprungsmythen gefragt wird, die fest in der Memorialkultur von Einwanderergesellschaften des Mittelalters und der Neuzeit verankert waren und zuweilen bis heute in der kollektiven Erinnerung der Nachkommen ebendieser Einwanderergruppen tradiert werden. In diesem Zusammenhang wird exemplarisch der Wirkmächtigkeit historiographischer Bilder von konstruierten „Räumen“ des „Eigenen“ und deren Abgrenzung gegenüber dem „Fremden“ nachgespürt. Dabei wird insbesondere die Persistenz von gruppenspezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern in historiographischen Konstruktionen und „master narratives“ aus der jeweiligen Einwanderungszeit explizit thematisiert, deren Prägekraft in hohem Maße insbesondere die populären Geschichtsbilder bestimmt hat und diese vielfach bis in die Gegenwart noch immer bestimmt. Dazu gehört beispielsweise auch der bemerkenswerte Befund, daß bis heute ein erheblicher Teil der – auch wissenschaftlichen – Publikationen zu Aspekten der Geschichte von Immigrantengruppen und Minderheiten aus der Feder der Nachkommen ebendieser Einwanderer stammt. Dabei wurden und werden – intendiert oder nicht-intendiert – oftmals Geschichtsbilder tradiert, welche den zivilisatorischen Fortschritt der jeweiligen Einwanderergesellschaften und die eigene kulturelle, ethnische und/oder religiöse Überlegenheit, etwa im Sinne einer „Lehrmeister-Funktion“ gegenüber der bei der Immigration vorgefundenen, bereits ortsansässigen (autochthonen Mehrheits-)Bevölkerung einseitig betont oder gar regelrecht propagiert. Der Topos eines – entweder traditionell oder kriegs- und seuchenbedingt dünnbesiedelten – „leeren Landes“ findet sich als Konstante in der Erinnerungskultur zahlreicher Immigrantengruppen, was – teils schon zeitgenössisch für die ersten Einwanderer, teils erst retrospektiv für spätere Generationen – auch die Funktion einer religiösen Sinnstiftung oder säkularen Legitimation für die Einwanderung haben konnte, indem sich in den Migrantenmilieus etwa ein gruppenspezifisches Selbstverständnis oder ein Sonderbewußtsein als Kolonisten, Pioniere oder Missionare entwickelte. Jedenfalls trug der Topos des „leeren Raumes“, welcher – besonders etwa durch die europäischen Siedler in der „Neuen Welt“ – auch als unendlich oder unbegrenzt wahrgenommen und attributiert wurde, maßgeblich zur Entstehung eines oftmals exklusiven Gruppenbewußtseins sowie spezifischer Mentalitäten und Habitusformen in der Fremde bei – durchaus auch in Abgrenzung zur ursprünglichen Heimat der Immigranten.

Die Vorträge innerhalb dieser Sektion fragen somit gleichermaßen nach der Entstehung von spezifischen Geschichtsbildern in der Einwanderungszeit sowie nach deren über Generationen tradierten und modifizierten Ausformungen. Die Termini „Raum“ und „Grenze“ werden dabei von den Sektionsleitern weniger geographisch-topographisch oder politisch-territorial, sondern vielmehr im Sinne des „spatial turn“ als virtuelle „mental maps“ verstanden. Der bewußt komparatistisch angelegte, chronologische Längsschnitt setzt bei Einwanderergruppen des Mittelalters ein und endet bei den Immigrationsbewegungen der jüngeren Geschichte. Beispiele von Fernwanderungen in Übersee werden dabei ebenso berücksichtigt wie innereuropäische Migrationsbewegungen.

Nach einer Einführung in die Thematik von MATTHIAS ASCHE stellt NORBERT KERSKEN (Marburg) Narrative zur Landnahme aus dem Hochmittelalter vor, in denen die Idee entwickelt wird, die gegenwärtige Bevölkerung sei einst in ein unbewohntes Gebiet gekommen. Die Beobachtungen werden weitergeführt mit der Verfolgung dieses Topos im Zusammenhang des hochmittelalterlichen Landesausbaus und anhand von Klostergründungsberichten.

Exemplarisch für die Überseekolonisationen des 17. Jahrhunderts steht die puritanische Landnahme in Neuengland, die ULRICH NIGGEMANN (Marburg) beginnend mit der „Plymouth-Plantation“ durch zuvor bereits in den Niederlanden ansässige englische Puritaner skizziert, deren Mythos als „Pilgrims“ bis heute eine wichtige Rolle in den nordamerikanischen Identitäts- und Nationskonstruktionen spielt. Die Identitäts- und Alteritätsdiskurse innerhalb der neuenglischen Puritanergemeinden werden verglichen mit der fast zeitgleich verlaufenden, ebenfalls calvinistisch geprägten niederländischen, zudem durch hugenottische Elemente bestimmte Landnahme der später als „Buren“ bezeichneten Einwanderer am Kap der Guten Hoffnung nach 1652. In beiden Fällen steht eine an alttestamentlichen Sprachmustern orientierte Konzeption des Siedlungslandes als „desert“ oder „Wildnis“ im Vordergrund.

Einen anderen Migrationscharakter – nämlich als staatlich gelenkte Peuplierungsmaßnahmen – hatten im 18. Jahrhundert die Ansiedlungen von lutherischen Bauern aus dem Erzbistum Salzburg und der Fürstpropstei Berchtesgaden im kriegs- und pestbedingt entvölkerten Preußisch-Litauen, denen sich der Vortrag von MATTHIAS ASCHE (Tübingen) ebenso widmen wird wie den ebenfalls deutschen Einwanderern an der unteren Wolga, die durch Zarin Katharina II. in den 1760er Jahren und am Schwarzen Meer unter Zar Alexander I. am Beginn des 19. Jahrhunderts im Russischen Reich angesiedelt wurden und deren Nachkommen heute als „Rußlanddeutsche“ bezeichnet werden. In der auf die hier behandelten Siedlergruppen bezogenen Historiographie spielt die Idee eines zum Zeitpunkt der Einwanderung kaum besiedelten, leeren Landes eine besonders herausragende Rolle, obwohl sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu den neugegründeten deutschen Siedlungen litauisch beziehungsweise russisch und tatarisch bewohnte Dörfer befanden.

Aus dem an Migrationsvorgängen besonders reichen 19. Jahrhundert wurden zwei beispielhafte Phänomene aus Übersee ausgewählt. In dem Referat von GEORG SCHILD (Tübingen) steht die Erschließung und Besiedlung des amerikanischen Westens im Mittelpunkt. Zwar trifft die Vorstellung eines „vacuum domicilium“ auf die USA im 19. Jahrhundert nicht mehr zu. Im Gegenteil: Gerade die zeitgenössischen juristischen Diskurse zeigen, daß dem Umstand, daß es auf dem Territorium der USA viele Indianer gab, in besonderer Weise Rechnung getragen werden mußte. Um sie umsiedeln zu können, unterschied man zwischen zwei Rechtsinstituten: „sovereignty“ und „occupancy“. „Sovereignty“ bedeutete, daß der amerikanische Staat die Verfügungsgewalt über alle Territorien besaß. Indianer hatten mit der Ankunft der Weißen die Souveränität über das Land verloren, aber ihnen wurde dennoch ein Recht auf Lebensraum zugestanden („occupancy“).

In umgekehrter Weise beschäftigt sich abschließend ROBERT KENNY (Melbourne) mit dem Prozeß der Entdeckung und Besiedlung Australiens. Er beschreibt die Imaginationen der Europäer von einem großen und reichen südlichen Kontinent („Terra australis incognita“), der im Zuge der Entdeckungsfahrten einer großen räumlich-geographischen Leere wich. Im Hinblick auf das Innere des schließlich in seinen Küstenlinien erfaßten australischen Kontinents begannen bald Spekulationen – so kursierten Vorstellungen von einem großen Binnenmeer, doch letztlich fand sich aus Sicht der Europäer nur ein „leeres“ und wüstes Land, das freilich heute als das Herz Australiens wahrgenommen wird. Der Vortrag wird insbesondere auch die Wahrnehmungen und Ängste der Siedler sowie ihre Identitätskonstruktionen thematisieren.

Am Ende der Sektion wird eine von ULRICH NIGGEMANN geleitete abschließende Diskussion aller Vorträge stehen, welche dazu einlädt, weitere historische, aber auch aktuelle Diskurse und Konstrukte des „leeren Raumes“ vergleichend zu thematisieren.

Vorträge Epoche
Der leere Raum in mittelalterlichen Narrativen zu Landnahme und Landesausbau Epochenübergreifende Sektion
Desert, Wilderness, End of the Earth – Konzepte von Wildnis Epochenübergreifende Sektion
Wahrnehmungen und Deutungen der Einwanderung und Niederlassung Epochenübergreifende Sektion