Grenzgänger – Imperiale Biographien in Vielvölkerreichen. Das Habsburger, das Russische und das Osmanische Reich im Vergleich (1806–1914)

(30. September 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.103)

Leitung: Prof. Dr. Dietrich Beyrau, Tübingen



1. Einleitung und Moderation

Referent/in: Prof. Dr. Dietrich Beyrau, Tübingen


2. Imperiale Biographien von Grenzgängern: Zur Einführung / Sokrat I. Starynkevic und Anton S. Budilovic: Warschau als Fronterfahrung oder letzte Ruhestätte. Zwei ungleiche Bürokraten und ihre Wanderschaften durch das Romanov-Imperium

Referent/in: Prof. Dr. Malte Rolf, Hannover


3. The Return of Lieutenant Atarshchikov: Empire and Identity in Asiatic Russia

Referent/in: Prof. Dr. Michael Khodarkovsky, Chicago


4. Habsburg Trieste: Pasquale Revoltella, Karl Ludwig Freiherr von Bruck, and the Case for a Maritime Empire

Referent/in: Prof. Dr. Alison Frank, Harvard


5. Galizien und Wien: Der Abgeordnete Joseph Samuel Bloch und sein Werben für eine „Österreichische Identität“

Referent/in: Tim Buchen, Berlin


6. Verwestlichung aus dem Osten? Das Beispiel von Omer-pasa Latas im Kontext des großen osmanischen Reformanlaufs im 19. Jahrhundert

Referent/in: Prof. Dr. Hannes Grandits, Graz / Berlin


7. Kommentar

Referent/in: Prof. Dr. Jörg Baberowski, Berlin


Abstract

Im langen 19. Jahrhundert wurde der osteuropäische Geschichtsraum vom Habsburger, vom Russischen und vom Osmanischen Imperium geprägt. Alle drei Großreiche waren komplexe multikonfessionelle und -ethnische Staatsgebilde, die sich durch ihre enorme interne Heterogenität auszeichneten – eine Heterogenität, die durch regionale Abweichungen im Staatsaufbau und die Existenz paralleler Rechtssysteme ebenso markiert wurde wie durch Differenzen der lokalen Entwicklungsniveaus oder die Divergenz von Bevölkerungsgruppen. Im 19. Jahrhundert kam Bewegung in das traditionelle Stabilitäts- und Ordnungsprinzip der Reichsverfassungen. Die strikte Trennung der Stände und die Abgrenzung von isolierten sozialen, konfessionellen und ethnischen Milieus, die bisher zur Regelung der Vielfalt gedient hatten, wurden im Zuge partieller Modernisierung und des Erstarkens von Nationalismen immer öfter durchbrochen. Im Zusammenhang mit zunehmender Industrialisierung, Urbanisierung und sozialer sowie räumlicher Mobilität wurde nun die Gestalt des Grenzgängers zum Breitenphänomen: Menschen, die dauerhaft oder temporär die bisher bestimmenden Grenzziehungen überschritten, waren in Zeiten des Wandels allerorts anzutreffen. Sie stellten überkommene Grenzverläufe in Frage, verringerten dabei jedoch keinesfalls die Heterogenität der Großreiche, sondern reproduzierten sie bei ihren Grenzübertritten. Indem sie Erfahrungshintergründe und Erwartungshaltungen aus alten in neue Kontexte transportierten, setzten sie weiterführende Differenzierungsprozesse in Gang.

Grenzgänger waren aber nicht nur entscheidende Akteure in diesem Prozess, sie waren auch diejenigen, die über die Komplexität der Imperien am intensivsten reflektierten. Dies gilt vor allem für jene Kohorte von Grenzgängern, deren Mobilität das Reichsterritorium in weiten Teilen umspannte und deren Biographien damit imperialen Zuschnitt hatten. Sie waren es, die bei ihren Wanderungen durch den imperialen Raum die Komplexität der Reiche erfuhren, diese oft genug als unhaltbar und anachronistisch wahrnahmen und die Konzeptionen zur ihrer Überwindung entwarfen. Als Experten mit reichsweitem Erfahrungs- und Kommunikationshorizont bildeten sie zudem jene Gruppe von Meinungsträgern, die glaubte, sich mit besonderer Autorität zu Fragen der Reichsverfasstheit und ihrer Modifikation äußern zu können. Die Postulate zum Reichszusammenhang der imperialen Grenzgänger beanspruchten qua Dienst und Erfahrung Deutungshoheit.

Sie stellten aber auch die zentrale Gruppe dar, die die Heterogenität der Reiche in den lokalen Kontexten, in dem sie ihren Dienst taten oder ihre Geschäfte tätigten, repräsentierten. Denn aufgrund ihrer Karriereverläufe und ihrer trans-lokalen Zirkulation personifizierten sie – als Beamte, Offiziere, Unternehmer oder Juristen – in den lokalen Begegnungsräumen das Reich insgesamt. Sie wurden so zu Symbolen der Chancen und Handlungsspielräume, die die Imperien bereitstellten, aber auch der Beschränkungen, die sie bedeuteten. Denn wie sonst, wenn nicht in Gestalt der sichtbaren raumüberschreitenden Grenzgänger, erreichte das Imperium als Kommunikationshorizont die vielen fragmentierten lokalen Milieus? Vor Ort vermischten sich allgemeinere Reichsbilder mit den individuellen Biographien der Grenzgänger, in denen sich oft die ganze Komplexität der Vielvölkerreiche in Miniatur abbildete.

Reichsweit mobile Grenzgänger waren damit immer Experten des Fremden wie Träger von Fremdartigkeit zugleich. Indem sie Grenzmarkierungen von geographischen, sozialen und kulturellen Räume überschritten, forcierten sie allgemein eine gesteigerte Reflexion darüber, welchen Platz Individuen und Gruppen im Imperium einnahmen und – damit verknüpft – wie die Verfasstheit der Großreiche zu ändern sei. Sie stießen damit nicht selten auch eine Neubewertung der Beziehungen zwischen Zentren und ihren Peripherien an, die sehr weitreichende Folgen zeitigen konnte. Grenzgänger waren so ein mehrfach dynamisierender Faktor in den Wandlungsprozessen, die die Vielvölkerreiche im langen 19. Jahrhundert durchliefen und die am Ende zu ihrem Zusammenbruch führten. Imperiale Biographien dieser reichsweit mobilen Grenzgänger spiegeln daher nicht nur die Komplexität der Imperien wider. Sie markierten vielmehr selber eines ihrer konstitutiven Elemente, da sich im reichsweiten curriculum vitae das Imperium als größere Kommunikationsgemeinschaft und Erfahrungshorizont erst herstellte.

In der Sektion „Grenzgänger – Imperiale Biographien in Vielvölkerreichen“ soll es darum gehen, ausgewählte Grenzgängerlebensläufe im Habsburger, im Russischen und im Osmanischen Reich im Vergleich zu betrachten. Im komparativen Kontrast werden zum einen die spezifischen Mobilitätsmuster von imperialen Akteuren in den jeweiligen Reichen deutlich. Zum anderen treten die Unterschiede sowohl im Umgang der Staatsinstitutionen mit Grenzgängern wie auch bei der Rezeption dieser „Externen“ in den lokalen gesellschaftlichen Kontexten zu Tage. Die Imperien wiesen zudem traditionell abweichende Prinzipien der Grenzziehung auf und verfügten über verschiedene Arsenale der Duldung, Förderung oder Verhinderung von Grenzübertritten. Es soll in der Sektion diskutiert werden, inwieweit sich diese abweichenden Muster im Zuge des Modernisierungsprozesses und angesichts der vergleichbaren trans-imperialen Herausforderungen änderten. Inwieweit wurden reichsübergreifend ähnliche Entwicklungen in Gang gesetzt, die die Reaktion auf und die Integration von imperialen Grenzgängern modifizierten? Zugleich überschritt die Mobilität der Grenzgänger teilweise auch die Staatsgrenzen der drei Großreiche und trug dazu bei, dass die Reflexion über die benachbarten Imperien deutlich zunahm. Derartige Grenzgänger haben entscheidend dazu beigetragen, dass sich die gegenseitige Wahrnehmung und die trans-imperialen Austauschbeziehungen zwischen dem Habsburger, dem Russischen und dem Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert intensivierten.

Die Sektion „Grenzgänger – Imperiale Biographien in Vielvölkerreichen“ wählt dabei in den Einzelvorträgen den Fokus auf die reichsweit mobilen imperialen Eliten – Beamte, Militärs, Unternehmer und Politiker. Es werden exemplarisch Akteure und ihre grenzüberschreitenden Lebenswege profiliert, bei denen sich in besonderer Weise die Interaktion von individuellen Handlungsfeldern und der Konstituierung imperialer Strukturen widerspiegelt. Die Sektion will damit eine grundlegende Debatte über den Stellenwert der Beschäftigung mit einem homo imperii im osteuropäischen Geschichtsraum anstoßen. Denn nur im konkreten Einzelfall der imperialen Biographie kann deutlich werden, wie sich das Imperium als Erfahrungshorizont und Vorstellungsraum konstituierte. Hier findet sich die Schnittstelle aus den Kontextsetzungen der jeweiligen Reichsverfassungen und den individuellen Sinngebungen besonders prägnant. In den Lebens- und Karriereverläufen der reichsweit mobilen Grenzgänger werden sowohl die Mobilitätsmuster der Großreiche deutlich wie die individuelle Ausdeutung der damit verbundenen Beschränkungen und Möglichkeiten. Die Prägekraft, die der imperiale Kontext auf die individuelle Konstruktion von Wirklichkeit haben konnte, manifestiert sich in den so unterschiedlichen Grenzgängerbiographien: Hier offenbart sich das Imperium als mächtige, kommunikative, handlungsrelevante und subjektkonstitutive Bezugsgröße.

Vorträge Epoche
Imperiale Biographien von Grenzgängern: Zur Einführung Geschichte des Mittelalters
The Return of Lieutenant Atarshchikov: Empire and Identity in Asiatic Russia Neuere/Neueste Geschichte
Pasquale Revoltella, Karl Ludwig Freiherr von Bruck, and the Case for a Maritime Empire Neuere/Neueste Geschichte
Galizien und Wien: Der Abgeordnete Joseph Samuel Bloch Neuere/Neueste Geschichte
Verwestlichung aus dem Osten? Das Beispiel von Omer-paşa Latas Neuere/Neueste Geschichte