An den Grenzen des Nationalstaats. Staatsbürger und Staatenlose zwischen Heimatlosigkeit und Weltbürgertum

(30. September 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.406)


Leitung: Dr. Miriam Rürup, Göttingen



1. Einführung und Moderation

Referent/in: Prof. Dr. Bernd Weisbrod, Göttingen


2. Staatenlosigkeit in modernen Staatsbürgerschaftsregimen – Nebenwirkung oder Ziel

Referent/in: Prof. Dr. Andreas Fahrmeir, Frankfurt/M.


3. Partizipatorische Staatsbürgerschaft: Geschlechtergrenzen und »citizenship« nach dem Ersten Weltkrieg

Referent/in: Prof. Dr. Kathleen Canning, Michigan/Freiburg


4. Heimatlose oder Weltbürger? Staatenlose in Europa nach den beiden Weltkriegen

Referent/in: Dr. Miriam Rürup, Göttingen


5. Diaspora und Weltbürgertum – postnationale Projekte?

Referent/in: PD Dr. Kirsten Heinsohn, Hamburg


6. Das World Government Movement – eine vereinte Welt im Nachkriegseuropa?

Referent/in: Julia Kleinschmidt M.A., Göttingen


7. Kommentar

Referent/in: PD Dr. Dieter Gosewinkel, Berlin


Abstract

1. Vorbemerkung

Durch die nationalstaatlichen Neuordnungen in Europa nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg entstanden nicht nur neue Staaten, vor allem in Ost- und Ostmitteleuropa, sondern zahlreiche Menschen verloren ihre Staatsangehörigkeit und damit die mit ihr verknüpften Rechte. Vor allem im Zuge dieser Entwicklungen entstanden überstaatliche Institutionen wie der Völkerbund und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, die sich um eine Problemlösung aus diplomatischer wie humanitärer Sicht bemühten.

Während in der Politik- und Sozialwissenschaft Grenzen meist als Markierungsinstitutionen betrachtet wurden, die dazu dienen, Barrieren zwischen Staaten zu markieren und zugleich dazu beitragen, die Bewegung von Menschen und Waren gleichermaßen unter Kontrolle zu halten, ist seit den 1990er Jahren auch in der Geschichtswissenschaft eine Tendenz auszumachen, Grenzen auch als diskursive Praxis zu untersuchen; eine Praxis, in der sehr unterschiedliche Akteure die Bedeutungen, Normen und Werte von Grenzen sowohl herstellen wie auch immer wieder von Neuem aushandeln. Die Forschung bewegt sich damit weg von einem reinen juristischen Verständnis von Grenzen als Unterscheidung zwischen Staaten und hin zu Fragestellungen, die mit den physischen wie den metaphorischen Grenzräumen gleichermaßen umzugehen versuchen. So werden auch die kulturellen Implikationen von physischen Grenzziehungen hinterfragt. Verhandlungen über tatsächliche und imaginierte Linien, über Prozesse und Institutionen, können zeigen, wie Grenzen überhaupt konstruiert werden und zugleich, wie sie übertreten/überschritten werden (können).

Grenzen trennen zwischen »denen« und »uns« und manifestieren so einen Prozess von Inklusion und Exklusion. Schließlich sind Grenzen Produkte von Interaktion und Kämpfen zwischen verschiedenen Interessengruppen, die mittels Grenzziehungen Machtverhältnisse und Hierarchien ausdrücken wollen. In diesem Sinne sind Grenzen nicht nur politisch und gesellschaftlich hergestellt, sondern auch kulturell konstruiert – ein Blick auf die Bedeutung von Kultur bei ihrer Herstellung erweist sich daher als durchaus lohnenswert, verbunden mit einem Blick darauf, wie Grenzen wiederum kulturelle Differenzen überhaupt erst herstellen. Die Geschichte spielt in diesem wechselseitigen Prozess von Herstellung und Wieder-Herstellung von Grenzen in Diskursen und kulturellen Praktiken eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt müssen Grenzen jedweder Form historisch legitimiert werden, um anerkannt zu werden.

2. Thema

Das Panel wird der Frage nachgehen, wie auf der einen Seite neue, moderne Konzepte von Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft durch die Erfahrungen der beiden Weltkriege und die daraus folgenden Grenzverschiebungen geprägt wurden, und wie auf der anderen Seite ein (völkerrechtliches) »Gespräch« über Staatenlose entstand, das einerseits zu internationalen Debatten über den Umgang mit dem Phänomen Staatenlosigkeit führte als auch nationale Rückwirkungen hatte. Zugleich soll dabei der Blick auf die sich als »Weltbürger« verstehenden Intellektuellen und Verfechter einer World Citizenship gerichtet werden. Letztlich geht es dabei auch um die Definition von staatlicher Zugehörigkeit über den (Um-)weg ihrer Negierung.

Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, angefangen mit den Ausbürgerungen der deutschen Juden durch nationalsozialistische Gesetzgebung und fortgesetzt in der Frage der nationalen Zugehörigkeit der diversen Vertriebenengruppen aus dem östlichen Europa, veranlassten die internationale Staatengemeinschaft, sich dem Problem der Staatenlosigkeit offiziell zuzuwenden. Auf Bestreben der Vereinten Nationen wurde nun nach Regelungen gesucht, zukünftig Staatenlosigkeit zu verhindern, was 1954 in einem völkerrechtlichen Übereinkommen mündete, das Schutz vor Staatenlosigkeit zusichern sollte und Reisepapiere für Staatenlose zur Verfügung stellte.

Der Staatenlose entstand als unvermeidliches Produkt von Staaten im und nach dem Krieg, gewissermaßen an den Grenzen des Nationalstaats. Jene ganz unterschiedlichen Gruppen von Menschen, die durch Krieg, Flucht und Vertreibung verbriefte staatliche Zugehörigkeiten verloren, bildeten das bislang kaum thematisierte Gegenstück zum historisch konstituierten »Staatsbürger«; sie stehen gleichsam abseits der inzwischen sehr gut erforschten Geschichte der Staatsangehörigkeit. Keinem Nationalstaat mehr zugehörig, waren sie die »Überflüssigen« der Gesellschaften und es waren nur mehr übernationale Organisationen, die sich ihrer annahmen. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass sich in den begleitenden Diskussionen über das Problem und seine Lösung – gleichsam als Kontrastfolie zum vermeintlichen Normalfall Staatsbürgerschaft – zentrale Aspekte europäischer Identitätsdiskurse und Zugehörigkeitsfragen widerspiegeln.


3. Sektion

Die Beiträge der Sektion sollen ausloten, ob und wie sich von diesen Grenzen des Nationalstaates aus betrachtet moderne Gesellschaften innerhalb oder jenseits des national geprägten Staates definieren (können). Diese Definition kann von den Rändern her entwickelt werden: Es geht um diejenigen, die aus verschiedensten Gründen nicht Teil der Staatsnation waren – sei es, weil ihr Staat infolge von Grenzverschiebungen nicht mehr bestand, sei es, weil sie infolge von Krieg, Flucht und Vertreibung ihrer Staatsangehörigkeit verlustig gingen, oder sei es gar, weil sie sich bewusst einer staatlichen Zugehörigkeit verweigerten. In diesem Rahmen wird danach gefragt, wie der national verfasste Gesellschaftsentwurf historisch entstanden – und wie er von verschiedenen Seiten wiederholt in Frage gestellt worden ist.

Die Beiträge sollen sich daher erstens mit Fragen von Staatsbürgerschaft und »citizenship« als Konzept der Moderne beschäftigen und zugleich diskutieren, inwiefern Staatsbürgerschaftsregime Staatenlosigkeit womöglich unvermeidlich herstellen (Vortrag: Andreas Fahrmeir). Sodann wird zweitens diskutiert, wie Geschlechtergrenzen des modernen Staatsbürgerbegriffs verhandelt und ein
Zugewinn an Rechten von vormals Marginalisierten ausgehandelt wurde/n. Inwiefern der moderne Staatsbürgerbegriff Geschlechtergrenzen auflöste, ist Teil dieser Fragestellung (Vortrag: Kathleen Canning).

Die weiteren Beiträge befassen sich mit der Infragestellung der modernen Staatsangehörigkeitsentwürfe aus Sicht der »Verlierer«, z.B. der Flüchtlinge und Vertriebenen, die Staatenlosigkeit als Entwurzelung, als Verlust von Rechten und Schutz erfuhren. Es geht also drittens um migratorische Gruppen zwischen staatlicher Schutzlosigkeit und (staats)bürgerschaftlichem Engagement; um die Staatenlosen in der Nachgeschichte der beiden Weltkriege (Vortrag: Miriam Rürup).

Dann soll viertens ein Blick auf Gegenentwürfe geworfen werden, zum Beispiel den Begriff des Weltbürgers. Hier können zum einen positive Bewertungen von (jüdischer) Diasporakultur als Möglichkeit interpretiert werden, als Weltbürger oder -bürgerin zu leben. Es ist allerdings zu fragen, ob dies im Zeitalter der Nationalstaaten nur ein individueller Akt sein kann. Außerdem wird mit Blick auf kritische Stimmen zur Staatsgründung und Staatsangehörigkeitspolitik Israels auch diskutiert, ob die Erfahrungen von Verfolgung und Massenmord womöglich gerade eine Renaissance nationalstaatlicher Zugehörigkeitskonzepte hervorgebracht haben (Vortrag: Kirsten Heinsohn). Schließlich sollen zum anderen die Grenzen des Nationalen aus Sicht derjenigen betrachtet werden, die aus ethischen, politischen oder wirtschaftlichen Gründen die Loslösung von nationalstaatlichen Zugehörigkeiten als Chance begriffen, oder gar eine kosmopolitisch verstandene Weltgemeinschaft anstrebten, in der der »Weltbürger« den »Staatsbürger« ablösen sollte (Vortrag: Julia Kleinschmidt).

In der Sektion wird damit über nur vermeintlich marginale Phänomene und Randgruppen diskutiert: Sowohl bei den als »heimatlos« bezeichneten staatenlosen Flüchtlingen als auch bei den sich bewusst für eine supra-nationale Identität als »Weltbürger« entscheidenden Akteuren handelt es sich um Personen, in deren Biographien und Einstellungen sich die Bedeutung der weltgeschichtlichen Entwicklungen von Globalisierung und Internationalisierung geradezu paradigmatisch aufzeigen lässt – bis hin zur Infragestellung und Überwindung der nationalstaatlichen Entwicklung der europäischen Moderne in radikalen Konzepten von Weltbürgertum und Kosmopolitismus.

Vorträge Epoche
Staatenlosigkeit in modernen Staatsbürgerschaftsregimen – Nebenwirkung oder Ziel Neuere/Neueste Geschichte
Partizipatorische Staatsbürgerschaft: Geschlechtergrenzen und citizenship nach dem Ersten Weltkrieg Neuere/Neueste Geschichte
Heimatlose oder Weltbürger? Staatenlose in Europa nach den beiden Weltkriegen Neuere/Neueste Geschichte
Diaspora und Weltbürgertum – postnationale Projekte? Neuere/Neueste Geschichte
Das World Government Movement – eine vereinte Welt im Nachkriegseuropa? Neuere/Neueste Geschichte