(29. September 2010 - 15.15 bis 18 Uhr - HS 1.601)
Leitung: Dr. Christina Benninghaus
1. Heroin: Vom Hustenmittel zur illegalen Droge (1898–1912)
Referent/in: Dr. Klaus Weinhauer, Bielefeld
2. Eine neue Art, unfruchtbar zu sein: Die Einführung der Tubendurchblasung um 1920
Referent/in: Dr. Christina Benninghaus, Bochum
3. Browning, Mauser und Co als Startschuss einer neuen deutschen Waffenkultur
Referent/in: Dr. Dagmar Ellerbrock, Bielefeld
4. Jenseits des Bauwerks: Professioneller Wandel und neue soziale Relevanz moderner Architekten nach 1918
Referent/in: Dr. Martin Kohlrausch, Bochum
5. Kommentar
Prof. Dr. Martina Heßler, Offenbach
Abstract
Bei der Suche nach inspirierenden neuen Ansätzen stößt man in (wissenschafts-)historischen Texten immer häufiger auf den Namen Bruno Latour und die mit ihm verbundene Akteur-Netzwerk-Theorie. Mit dieser – auch in den Augen ihrer Erfinder eher problematischen Bezeichnung – wird ein Konzept benannt, das darauf zielt, Ereignisse und Innovationsprozesse besser zu verstehen. Zu diesem Zweck setzt die ANT auf die minutiöse Rekonstruktion von Handlungen und Praktiken und den dabei zwischen Menschen und zwischen Menschen und Objekten entstehenden Verbindungen. Gegenstand einer Untersuchung im Sinne der ANT kann dabei jeder Prozess einer Genese sein, sofern nur die Forschenden bereit sind, sich in ihrer Untersuchung auf die Verbindungen zu konzentrieren, die von den unterschiedlichen am Innovationsprozess beteiligten Akteuren eingegangen wurden. Die ANT ist damit keine Theorie über die Beschaffenheit der Welt, sondern ein Theorie darüber, wie Innovationsprozesse empirisch zu erforschen und schreibend darzustellen sind. Ihr bewusstes Ziel ist, Erklärungen zu vermeiden, die auf Mächte oder Prozesse zurückgreifen, die angeblich hinter dem Rücken der Beteiligten wirken. Gewöhnungsbedürftig ist dabei, dass die ANT auch Objekten den Status von Akteuren zuerkennt und damit die von der materiellen Welt auf menschliche Akteure ausgehenden Impulse mit in ihre Beschreibungen einbezieht.
Aus Sicht der Geschichtswissenschaft ist die ANT in mehrfacher Hinsicht interessant. Sympathien dürften ihr sicher sein, weil sie in bewusster Abgrenzung zu radikal sozialkonstruktivistischen und zu dekonstruktivistischen Positionen steht. Während Habituskonzepte und Diskursanalyse eher langlebige Strukturen in den Blick nehmen, fokussiert die ANT Momente des Wandels. Zudem stellt ihr Interesse an der Wirkungsmächtigkeit von Dingen eine produktive Herausforderung für die vornehmlich textbasierte Geschichtswissenschaft dar.
Während die ANT im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte bereits breit rezipiert worden ist, fehlt es weitestgehend an empirischen Studien, die die Brauchbarkeit des Ansatzes auch außerhalb der Wissenschaftsgeschichte unter Beweis stellen.
Die Sektion verfolgt das Ziel, die Nützlichkeit der ANT für die Geschichtswissenschaft anhand konkreter empirischer Beispiele kritisch zu diskutieren. In mehreren Fallstudien sollen die Potentiale, aber auch die Grenzen ihrer Anwendbarkeit herausgearbeitet werden. Solche Grenzen bestehen zum Beispiel in der empirischen Schwierigkeit, historische Abläufe und interaktive Praktiken zu rekonstruieren. Während sich Diskurse vergleichsweise gut nachzeichnen lassen, sind face-to-face bzw. face-to-thing Interaktionen historisch weitaus schwerer zu fassen. Nur in Ausnahmefällen wird es möglich sein, alle relevanten historischen Informationen zu beschaffen. Tagebücher aus den Laboren des Alltags sucht man – jenseits der großen Politik und anderen Schaltstellen der Macht – gewöhnlich vergeblich.
Empirisch beziehen sich die Sektionsbeiträge auf die europäische Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Sie nehmen damit eine Phase rasanten historischen Wandels in den Blick, in der sich das menschliche Universum mit neuen technischen Artefakten (Waffen, Röntgenapparaten, Filmen ...) und mit neuen Wissensgegenstände (Bakterien, Genen, Pubertät, Neurasthenie, Wirtschaftszyklen ...) belebte. Die Entstehung dieser Gegenstände wie auch die von ihnen ausgehenden Dynamiken genauer zu verstehen, leistet damit einen wichtigen Beitrag zur historischen Deutung dieser Zeit.