Anke Hilbrenner Liliya Berezhnaya Stefan Rohdewald (Sektionsleitung)

Russia’s War Against Ukraine. From Stability back to the Fluidity of State Borders – European History in Shambles

Download iCal

Abstract

At the latest with the full-scale war of aggression launched by Russia against Ukraine on February 24, 2022, all hopes for containment or abatement of the territorial and military conflict waged by the Russian government since 2014 between the largest and second-largest states in Europe have proved misguided. Instead, violations of the fundamental documents co-initiated by the Soviet Union and still formally supported by Russia are being enforced with escalating violence. The rule-breaking is simultaneously accompanied by neo-imperial historical images and paradoxically with decolonialist set pieces of the concept of a multipolar world, arbitrarily constructed scenarios that violate the internationally agreed immutability of national borders.

Against this backdrop, the discussion panel will provide historical perspectives on the historicity of the relatively young concept of fixed and immutable state borders in the (trans)regional and European context. The participants represent very different research foci in thematic, temporal, and regional aspects so that, in addition to current or (post)Soviet contexts and after-effects, the cultural relevance of imperial and early modern border concepts in the face of current neo-imperial ambitions and nation-state legitimation are brought into play. The spectrum of expertise ranges from today's Ukraine and Russia to the Soviet Union and Ukrainian state concepts of the 20th century, to Austria-Hungary, the Russian Empire, Poland-Lithuania, and the Ukrainian Hetmanate in a transregional context. The panel discussion will be less a strict sequence of lectures but rather a debate, introduced by a few short statements by the participants.

Stefan Rohdewald (Leipzig)
Über die Auflösung des Konzeptes internationaler Grenzen

Anhand des Kriegs Russlands gegen die Ukraine wird der Versuch der Auflösung des Konzepts internationaler Grenzen erkennbar. Die Schöpfung Transnistriens – auf moldawischem Territorium – seit 1990 stand in der Region am Anfang. Eskalierend folgten nach dem Georgienkrieg 2008 die Annexion der Krim 2004 und der Angriffskrieg 2022 mit dem Versuch der Eingliederung weiterer, nur zu 2 Teilen besetzter Provinzen der Ukraine. Damit gleichen diese de facto einer imperialen Pufferzone, wie sie in der Frühneuzeit vor der Einrichtung linearer Grenzen auch in diesen Gebieten üblich waren, die aber – wie der Angriff insgesamt – das heutige Russland mit OSZE und UNO grundsätzlich inkompatibel machen.

Liliya Berezhnaya (Münster)
Historische Mythologie und symbolische Kommunikation bei der Verschiebung von Grenzen

Seit den Beginn des vollumfänglichen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine in Februar 2022 ist die Frage nach der Legitimation der europäischen Staatsgrenzen eine der wichtigsten. Es geht nicht nur um (Nicht)Einhaltung von Grundsatzdokumenten der UNO und OSZE und die Nachkriegs-Weltordnung, sondern auch um gravierende Verschiebungen zwischen den so genannten „harten“ (institutionalisierten) und „soften“ (imaginierten) Grenzen (Klaus Eder). Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg über Mental- und Erinnerungs-Landschaften. Zum großen Teil werden diese Änderungen ethnisch-konfessionell begründet, mit Exkursen tief in die Vormoderne hinein. Die Verschiebungen werden von einer Wiedererweckung der historischen Mythologie und symbolischen Kommunikation begleitet. Diese zu deuten hilft das Ausmaß von Veränderungen zu verstehen.

Anke Hilbrenner (Düsseldorf)
Der „Wilsonian Moment“ und die russische Aggression

Wladimir Putin hat bei seinem Versuch, den brutalen Angriff auf die Ukraine historisch zu legitimieren, behauptet, die Ukraine sei gar keine Nation, sondern eine Erfindung Lenins. Damit hat er die Entstehung des ukrainischen Staates auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg datiert. Zahlreiche europäische Staaten im östlichen Europa verdanken ihre Grenzen dem „Wilsonian Moment“, wie Erez Manela ihn genannt hat. Die neuen Staaten entstanden im Spannungsfeld der antikolonialen Rhetorik Wilsons und einem gewissen Pragmatismus, denn das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ war nicht das geeignete Mittel, der komplexen multinationalen Realität Ostmitteleuropas gerecht zu werden. Der Rückgriff auf diese Elemente ist ebenso anachronistisch, wie der Versuch, Staatlichkeit historisch zu essentialisieren.

Guido Hausmann (Regensburg)
Die Geographie und Grenzen der Ukraine

Bei der ersten modernen Staatsbildung der Ukraine am Ende des Ersten Weltkrieges spielten Geographen keine unbedeutende Rolle, da sie erstmals ukrainische Territorialität und politische Grenzen wissenschaftlich begründeten. Ein näherer Blick auf sie zeigt, dass ihr Denken stark durch regionalen (ukrainisch-polnischen) und größeren europäischen (Österreich, Deutschland) Austausch, aber 3 auch durch Abgrenzungen (gegenüber Polen und Russland), geprägt war. Die Historisierung und Kontextualisierung dieses wissenschaftlichen Erbes bleibt für die Ukraine wie für das ganze östliche Europa bis heute eine wichtige Aufgabe.

Andrij Portnov (Frankfurt an der Oder)
Wie kann die postkoloniale Perspektive helfen, die Geschichte der ukrainischen Grenz- und Bevölkerungsbildung zu verstehen?

Der Beitrag wird die Relevanz und die möglichen epistemologischen Fallen bedenken, die sich ergeben, wenn man die Art des Russlands Krieges gegen die Ukraine und die Stärke des ukrainischen Widerstands mit postkolonialen Begriffen interpretiert. Wie kann die postkoloniale Perspektive helfen, die Geschichte der ukrainischen Grenz- und Bevölkerungsbildung zu verstehen? Welche Aspekte des ukrainischen antikolonialen marxistischen Ansatzes aus den 1920er Jahren (M. Volobujev, O. Ohloblin u.a.) könnten wichtige Einblicke in die historische Genealogie des andauernden Krieges liefern? Wie können Historikerinnen heutzutage die Fallen der Essentialisierung des Imperiums und seiner Opfer vermeiden?

Corinne Geering (Leipzig)
Welche Rolle spielt die sowjetische Vergangenheit heute?

Welche Rolle spielt die sowjetische Vergangenheit heute, wenn von einem ‚neuen‘ oder ‚zweiten‘ Kalten Krieg gesprochen wird? Im Zuge der Dekolonisierung der 1950er- und 1960er-Jahre präsentierte sich die Sowjetunion in internationalen Organisationen als Befürworterin staatlicher Souveränität, während ihre Armee gleichzeitig in den Staaten des Warschauer Pakts einmarschierte. Auf der Höhe des Kalten Krieges warfen die Vertreter:innen der Sowjetrepubliken dem Westen wiederholt das Aufrechterhalten imperialistischer Politik vor. Ähnliche Argumente werden heute erneut von staatlichen Vertreter:innen Russlands geäussert, wobei sich die Debatten zu staatlicher Souveränität gewandelt haben und die koloniale Politik Russlands gleichzeitig in den Vordergrund rückt.

Nataliia Sinkevych (München)
Kirche und die Bestimmung der politischen Grenzen im Osteuropa

Die Politisierung der Religion, der Klerikalismus und die ständige Suche seitens der Kirche nach der Protektion durch den Staat und dessen einzelnen Anführern bleiben für die ukrainischen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts wichtig. Auf dem Territorium der Ukraine koexistieren mehrere Konfessionen. Die interkonfessionellen Debatten haben schon längst die Grenzen der kanonischen Fragen überschritten und nehmen damit Einfluss auf die Erinnerungskultur und die staatliche Gedächtnispolitik. Somit wird die Kirchen- und Religionsgeschichte in der gegenwärtigen ukrainischen Gesellschaft aktiv thematisiert. Sie ist eine wichtige
Argumentationsfigur, um sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ukraine und der ukrainischen Gesellschaft zu verständigen.

Ihr Feedback