Vom Verlust als Erfolg erzählen. Erfahrungen und Wahrnehmungen jüdischer Migrationsbewegungen im 20. Jahrhundert

STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM (Berlin)
Einführung

SIMONE LÄSSIG (Braunschweig)
Moderation Teil 1

CHRISTINE VON OERTZEN (Berlin)
Doppelte Verliererinnen? Ausgewanderte Akademikerinnen und die Generalisierung des Scheiterns

ANNA MENNY (Hamburg)
Zwischen Verlust und Bedrohung. Die Wahrnehmung jüdischer Migration in Spanien

AXEL SCHILDT (Hamburg)
Kommentar Teil 1

MIRIAM RÜRUP (Hamburg)
Moderation Teil 2

VIOLA RAUTENBERG-ALIANOV (Haifa)
„Zerbrochen an Leib und Seele“. Dimensionen und Diskurse des Scheiterns deutsch-jüdischer ImmigrantInnen in Palästina in den 1930er Jahren

KAREN KÖRBER (Berlin)
„Bei uns bleiben die, die es draußen nicht schaffen.“ Bilder und Geschichten vom Gewinnen und Verlieren. Die Einwanderung russischsprachiger Juden zwischen Recht, Repräsentation und Realität

BJÖRN SIEGEL (Sussex)
„…, denn mein einziges Kapital waren mein Name und mein Ruf…”. Arnold Bernstein und die Konstruktion der eigenen Erfolgsgeschichte vor und nach dem Nationalsozialismus

AXEL SCHILDT (Hamburg)
Kommentar Teil 2

Abstract:
Das Leitthema des Historikertags 2014 lenkt den Blick fast zwangsläufig auf zentrale Aspekte der jüdischen Geschichte und ihrer wissenschaftlichen wie populären Reflexion. Diese  nämlich hat sich über Jahrzehnte hinweg zwischen zwei  nur scheinbar gegensätzlichen Topoi bzw. Deutungen bewegt – Verlust und Gewinn: Verlust von Religiösität und „Jüdischkeit“ einerseits, Gewinn von Gleichheit und bürgerlicher Sekurität andererseits – bzw. die von außen aufgezwungene brutale Veränderung von beidem: dem Verlust der Gleichheit und Sicherheit bzw. des Lebens durch die nationalsozialistische Verfolgung, die bei den Überlebenden in den westlichen Emigrationsländern sowie in Israel, oftmals eine Stärkung der eigenen jüdischen Identität zur Folge hatte.
Den zentralen Rahmen für beide, in der jüngeren Forschung zunehmend ausdifferenzierte Paradigmen jüdischer Historiographie bildeten die zahlreichen Migrationsbewegungen, von denen die jüdische Geschichte bestimmt gewesen ist – einige davon als Arbeits- und Aufstiegsmigration auf der Suche nach einem besseren Leben, einige als Fluchtbewegung in Reaktion auf Verfolgungen, wieder andere auch als Rückkehrbewegungen nach einiger Zeit in der Emigration. Eine solche Rückkehrbewegung konnte aus verschiedenen Motiven erfolgen: sei es, weil die erhoffte Statusverbesserung ausblieb war, weil Pläne scheiterten, weil die Rückkehr nach politischem Wandel im Herkunftsland wieder möglich war oder schlicht das Heimweh die Oberhand gewann.
Dabei bewegte sich die jüdische Migration vor allem in einem Dreieck, das aus der Auswanderung aus Osteuropa, der Ein- und Durchwanderung aus/durch Deutschland, und der Einwanderung in zwei neue Welten bestand: die USA oder nach Eretz Israel/Palästina in der Hoffnung, dort eine neue Gesellschaft aufzubauen. Migration war dabei immer vielfältig motiviert und reichte von Migration als Emigration und Flucht bis zur freiwilligen Auswanderung aus verschiedenen Gründen, die mit der zionistischen Migration auch eine spezifisch jüdische Komponente erhielt.  Wenn man so will, handelt es sich dabei also um eine jüdische Variante der klassischen und inzwischen längst von der Forschung zugunsten differenzierender Zugänge überholten Gegenüberstellung von Push- und Pull-Faktoren.
In der hier vorgeschlagenen Sektion wollen wir zwei Perspektiven miteinander verzahnen, die beide  für sich genommen bislang wenig Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden haben und daher erst recht in ihrer Verschränkung neue Einsichten versprechen: Zum einen jüdische Migration als Erfahrungsgeschichte und zum anderen jüdische Migration als Wahrnehmungsgeschichte bzw. Geschichte zweiter Ordnung. Dementsprechend  wollen wir unter anderem danach fragen, wie Emigranten „Scheitern“ erfahren haben, inwieweit bzw. wie sie Resilienzressourcen mobilisierten  (oder auch nicht), um reale Verluste (an Status und Besitz, an „Heimat“, an sozialen Beziehungen und kulturellem Kapital, an Zukunftserwartungen und -plänen, an Familienbindungen etc.)  zu verarbeiten und in bestimmten Konstellationen als Gewinn für das eigene Leben und das der Familie deuten zu können. Die Sektion, die sich auf erzwungene Migration konzentrieren, aber nicht beschränken will, fragt also nach – in der Forschung bisher wenig thematisierten – Erfahrungen des Scheiterns in der jüdischen Migration. Dabei geht es um Innen-, aber auch um Außenperspektiven und deren Rückwirkung auf jüdische Biographien oder Gruppenerfahrungen. Wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, eine etwaige Rückkehr aus der Emigration als Scheitern gedeutet und wenn ja: von wem? Fühlten sich Westemigranten – verglichen mit Palästinaauswanderern – eher als Gewinner und welche Rolle spielte die Shoah als Folie für die Neu-Deutung der eigenen Lebenssituation in und nach der Emigration?
Den unterschiedlichen Erfahrungen von Scheitern und Verlieren sowie den damit verbundenen  Verarbeitungsstrategien wollen wir uns aus verschiedenen Perspektiven zuwenden: Erstens der erfahrungsgeschichtlich ausgerichteten Binnenperspektive: Migrationen, die von den Akteuren nicht nur prozessual als Verlust in Bezug auf die eigene Biographie, sondern auch im Ergebnis als  „gescheitert“ eingestuft und wahrgenommen wurden; entweder weil sie oder ihre Familienangehörigen im Zielland gar nicht ankamen, weil sie nicht das gewünschte Zielland erreichten, weil staatliche Hürden, Abschiebemaßnahmen und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten bzw. Qualifikationen die Sicherheit der Existenz bedrohten oder aber weil sich identitätsstiftende Faktoren grundlegend und offenbar auf längere Sicht bzw. dauerhaft wandelten. Zu denken wäre hier etwa an den sozialen Status und berufliche wie gesellschaftliche  Anerkennung von Männern und Frauen, Jungen und Alten;  an neu zu ordnende Geschlechtermodelle, an die fremde Sprache oder an  etablierte kulturelle Praktiken, für die es im Emigrationsland plötzlich keinen oder nur einen eingeschränkten Resonanzboden gab.
Zweitens soll der Blick Außenperspektiven einschließen, also auch auf die Wahrnehmungsgeschichte jüdischer Migration gerichtet werden. Dabei geht es sowohl um jüdische als auch um andere Repräsentationen. Gefragt werden soll zum einen nach Strategien der biographischen Verarbeitung von „Verlieren“ und von „Scheitern“ durch ehemalige Migrant_innen und deren Nachkommen: Wie wandelte sich jüdische Erinnerung an Migration, wie veränderten sich dominante Narrative von Verlust oder Erfolg in nachfolgenden Lebensperioden. Welche Umdeutungs-, Übersetzungs- und Überschreibungsprozesse sind fassbar und können ggf. als typisch verstanden werden? Zum anderen interessiert uns das – zuweilen spannungsreiche und von erheblichen Diskrepanzen geprägte – Verhältnis von Erfahrungs- und Wahrnehmungsgeschichte. Wir fragen, wie jüdische Migrationen, Migrationserfahrungen und Remigration nach der Shoah in verschiedenen Bezugsfeldern der Gesamtgesellschaft, insbesondere in gesellschaftlichen Diskursen, Bildung, Kunst, Kultur und Medien, aber auch in der Geschichtswissenschaft repräsentiert wurden; wie und warum sich hegemoniale Deutungen ausformten und (nicht) wandelten, und welche Typen von Migranten in welchen Perioden der jüngsten Geschichte überhaupt Aufmerksamkeit auf sich zogen: die – wieder – Erfolgreichen,  die Gescheiterten, die Ausnahmeerscheinungen,  frühere bzw. wieder etablierte Eliten oder eher ganz gewöhnliche Juden, Westemigranten oder Auswanderer nach Palästina, Remigranten? Gefragt wird des Weiteren, welche Migranten Agency zugesprochen bekamen und welche aus dem kulturellen Gedächtnis der jüdischen wie nichtjüdischen Gemeinschaften  gerade deshalb herausgefallen sind, weil sie als „Verlierer“ oder „Gescheiterte“ wahrgenommen worden sind.

English Version:
The central theme of 2014’s Historikertag conference impels us almost inevitably to turn towards key aspects of Jewish history and the ways in which it has been reflected in the academic and popular arenas; it appears as if, over a period of decades, this history has been told almost exclusively in terms of two, only seemingly opposing, topoi and interpretations: gain and loss. The loss, initially, was a loss of religious tradition and “Jewishness”, the gain that of equality and security in the heart of the educated middle classes. There followed the brutal rupture and overturning, forced upon the Jews from without, of both these changes, with equality and security, indeed life itself, lost once again at the hands of the Nazis, and, in many cases, a rediscovery and regaining of Jewish identity by the survivors who found sanctuary in Israel and the West.
Both paradigms of Jewish historiography, between which recent research has begun to distinguish in a more nuanced manner than hitherto, are located in the crucial context of the migration which has accompanied Jewish history throughout its course. Some of this migration took place in search of work and a better life, some as flight from persecution, some as a return from a period of emigration due to hopes of improved status in the country of emigration having remained unfulfilled, political change having made a return possible or the simple longing for home having prevailed.
Jewish migration largely took place within a triangle consisting of emigration from Eastern Europe, passing in many cases through Germany, and from Germany itself, and immigration to the two “new worlds” of the US and, in hopes of founding a new society, Eretz Israel/Palestine. Jewish migration has always been driven by diverse sets of motives, and some of it, specifically Zionist migration, has taken on a particular Jewish dimension. We might class the view academia has taken of these movements of migration to date as a specifically Jewish variation on a conventional comparison and contrast of push and pull factors, a contrast long since abandoned by the research in favour of more nuanced approaches to the issues.
The panel we propose to conduct will interlink two specific views on this area of research, neither of which have as yet received a great deal of attention from scholars in the field, meaning their interconnection is extremely likely to open the way to new insights: these are the view of the history of Jewish migration as a history of experience and that of this history as a history of perception, or as a second-order history. We will accordingly explore the ways in which migrants have experienced “failure” in emigration, and investigate the extent to and manner in which they were able to mobilise their resources to remain resilient in the face of the loss of status, possessions, a place to call home, familial and social relationships and cultural capital, and hopes and expectations for the future, and in some specific cases and situations to interpret these losses as gains for their own lives and those of their families. In other words, the panel, which will focus on, but not restrict itself to, forced migration, will raise issues around experiences of failure in connection with Jewish migration which have found little consideration in research to date. We will examine views both from within this context and without, and the impact of these views on the lives of Jewish individuals or groups. We will, for instance, be considering whether returning from emigration was perceived as failure, and if so, who perceived it in this manner; whether migrants to the West felt more like “winners” than did those who left for Palestine; and to which extent the Shoah acted as a backdrop to people’s reinterpretations of their lives and situations during and after emigration.
We will take a range of differing approaches to the multiplicity of experiences of loss and failure sustained by Jewish people in this context and the coping strategies these experiences engendered. One approach, based on the interpretation of this history as a history of experience, will revolve around the view from within these situations: We will be exploring experiences of migration categorised and perceived by those who lived them as not only a process of loss in the context of their lives, but also as “failed” in terms of their outcomes, either because the migrants or members of their families did not reach any or the desired destination, because barriers set up by states, deportations, and a lack of employment or qualifications threatened their security of residence or livelihoods, or because factors around which the migrants had built their identities changed fundamentally and evidently for the long term or indeed permanently. Specific issues in this context might be around the contrasting social and professional status of men and women, young and older people, or around changes in gender roles, struggles with new languages, and established cultural practices which were not or barely recognised or reflected in the countries to which those who identified with them emigrated.
Additionally, we will examine outside perspectives on Jewish migration, that is the history of its perception, as held by both Jewish and non-Jewish individuals and groups. We will investigate the strategies deployed by former migrants and their descendants in the process of coming to terms with “losing” and “failure”, looking at how Jewish memories of migration changed over time, how prevailing narratives of loss or success rewrote themselves in the later lives of those who experienced them, and which processes of translation, reinterpretation and reformulation we can observe and potentially identify as typical of this group of people. Further, we will engage with the relationship between histories of experience and of perception, a relationship occasionally marked by considerable tension and discrepancies in its assessment. We will explore representations of Jewish experiences of migration and remigration after the Shoah in a range of societal fields, particularly in social discourse, education, art, culture and the media, but also in academic history; likewise, we will retrace the development of hegemonic interpretations, how and why they emerged, changed or remained constant, and which types of migrants attracted discursive attention in which periods of recent and contemporary history: was it those who had attained or reattained success, the “failures”, the exceptions to the rule; former or re-established elites or ordinary Jews; those who had emigrated to the West or to Palestine; or remigrants? We will also be considering which migrants were viewed as being possessed of agency and which were perceived as “losers” or “failures” and therefore excluded from the cultural memory of Jewish and non-Jewish communities.