Nicht nur Kapitänsfrau. Neue Perspektiven auf Frauen in der frühneuzeitlichen Seefahrtsgesellschaft
Die frühneuzeitliche Seefahrtsgesellschaft wird teilweise bis in die jüngste Forschungsliteratur hinein – meist implizit – relativ stark männlich konzipiert und entsprechend beschrieben. Im Panel wird die Perspektive geweitet. Eine Seefahrtsgesellschaft definieren wir als eine Gruppenformation, die sich mittels bestimmter Kommunikationstechniken sozial und emotional über ihre ökonomische Abhängigkeit von einem regelmäßigen Ankommen und Abfahren von Schiffen konstituiert und auch identifiziert.
Jedes Schiff auf dem Ozean basierte auf einem „Hinterland“, welches bei weitem nicht nur auf Warenlieferungen oder Hafenanlagen zu reduzieren ist, sondern im Gefüge einer komplexen Seefahrtsgesellschaft bestand. Umfangreiche familiäre, lokale und regionale Netzwerke sowie Handlungsgefüge von zahllosen Akteuren beiderlei Geschlechts bedingten die Möglichkeiten und Beschränkungen einer Seefahrtsgesellschaft in ihrer jeweiligen orts- und regionalspezifischen Ausprägung.
Weiblicher Handlungsmacht kam hier häufig eine entscheidende Bedeutung zu. Die Seefahrtsgesellschaft basierte, wie fast alle entsprechenden Gruppenkonfigurationen der Frühen Neuzeit, auf einer Subsistenzwirtschaft, so dass eine Nicht-Nutzung der weiblichen Handlungsmöglichkeiten auch kaum denkbar erscheint. In diesem Falle aber kommen Spezifika hinzu, die wohl bei anderen Formationen frühneuzeitlicher Vergesellschaftung kaum ausgeprägt waren. Die Gefahren zur See, die langen Abwesenheiten vieler männlicher Familienangehöriger und das Potential zur sehr weiträumigen Disloziertheit von Gesellschaftsmitgliedern stechen hier unter anderem hervor. Dies hat zu einer besonders ausgeprägten Sichtbarkeit von weiblichen Angehörigen der Seefahrtsgesellschaften sowie zur besonders guten Dokumentation ihrer Handlungsmöglichkeiten geführt. Im Panel sollen diese herausgearbeitet und damit eine neue Perspektive auf die Dynamik weiblicher Handlungsmacht und -räume in der Frühen Neuzeit im Allgemeinen eröffnet werden.
Der Vortrag geht der Frage nach, wie an Bord von Segelschiffen notwendige Tätigkeiten organisiert wurden. Im Fokus stehen zum einen die Beteiligung von Akteurinnen an Praktiken wie Segeln, Kochen, Waschen, Krankenpflege oder Kämpfen und zum anderen dabei erkennbare Vorstellungen von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. So lässt sich – gerade in Wechselwirkung mit Küstengesellschaften – nicht nur eine aktive, teilweise essenzielle Mitwirkung von Frauen nachweisen, sondern auch aufzeigen, wie historische Geschlechterrollen jeden Tag das Leben an Bord aller Schiffe prägten.
Im Falle einer Kaperung ihrer Angehörigen zur See durch nordafrikanische Korsaren war ein wichtiges Ziel die Organisation des Freikaufs. Bei den entsprechenden Aktivitäten stechen die weiblichen Angehörigen der Seefahrer heraus, und sie sind quellenmäßig in Form von Petitionen und längeren Korrespondenzen, oder Prozessen über längere Zeiträume greifbar. Im Vortrag sollen mittels dieses Quellenkorpus Handlungsspielräume und normative Ideale von Frauen in den Seefahrtsgesellschaften Nordeuropas rekonstruiert werden.
In der einschlägigen Literatur zu frühneuzeitlichen Seefahrtsgesellschaften wird der Charakter des Schiffes als „Männerraum“ zumeist als Grundannahme stillschweigend vorausgesetzt. Im Vortrag sollen in einer intersektionalen Perspektive bisher übersehene Handlungsspielräume und die Agency von Frauen im alltäglichen Zusammenleben an Bord aufgezeigt werden – sei es als Passagierinnen oder sogar in Einzelfällen als Teil der Mannschaft.