Ländliche Machtkulturen in Deutschland seit 1945
Vorstellungen von politischer wie gesellschaftlicher Machtverteilung und -dynamik in der Zeitgeschichte basieren in weitem Maße auf Forschungen zu städtischen Räumen bzw. auf Annahmen, die aus der unmittelbaren biographischen Erfahrung urbaner Lebenswelten fließen. Insbesondere die deutsche Forschung hat für die Zeit nach 1945 bislang keinen systematischen Blick auf ländliche Räume gerichtet. Dabei weisen ländliche Machtstrukturen ein erhebliches Maß an Eigenlogik auf. In den für ländliche Lebenswelten charakteristischen kleinräumigen Handlungsbezügen waren auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesellschaftliche und politische Machtverhältnisse um einiges enger verschränkt als in urbanen Räumen. Die Ausdifferenzierung von Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erfolgte in eigenen Rhythmen. Der Blick in ländliche Räume ermöglicht es daher, Dynamiken der Macht zu rekonstruieren, die sich nicht den bekannten Mustern fügen. Daraus lassen sich Schlussfolgerungen unterschiedlicher Reichweite ziehen: Waren ländliche Räume tatsächlich Sonderfälle, wie das die Forschung – noch immer einer modernisierungstheoretischen Logik folgend – impliziert? Wie kann eine Zeitgeschichte ländlicher Räume die daraus resultierenden Vorannahmen über gesellschaftliche Machtstrukturen korrigieren und differenzieren?
Die Sektion entfaltet an drei Beispielen die Potenziale einer Geschichte ländlicher Machtkulturen im geteilten und dann wiedervereinigten Deutschland seit 1945. Fokussiert auf entscheidende Prozesse des Wandels werden die für ländliche Räume spezifischen Entwicklungsdynamiken herausgearbeitet: für die Landwirtschaft und ihre Wissenskulturen; in Bezug auf die digitale Transformation; in der diskursiven Verfestigung der Chiffre Berlin in ländlichen Räumen Ostdeutschlands der Gegenwart. Die 15minütigen Impulsreferate werden von einer zehnminütigen Einführung durch die Antragstellerinnen gerahmt; daran schließt sich eine 35-minütige offene Diskussion an.
In beiden deutschen Staaten veränderten sich nach 1949 die Machtverhältnisse in der Landwirtschaft grundlegend. Mit ihrer Intensivierung hielt ein neues Tierfutterparadigma Einzug, in dessen Folge wissenschaftliches Wissen generiert, avancierte (Bio)Technologien etabliert und neue betriebliche Praktiken implementiert wurden. Entsprechend verschoben sich die Machtverhältnisse zwischen alten (Bauern; wissenschaftliche Experten) und neuen Akteuren (Agrarindustrie; Funktionäre in der kollektivierten Landwirtschaft). Der Vortrag zeigt, welche Bedeutung der Aneignung und Enteignung von Wissen zukam, über die Machtressourcen neu verteilt wurden.
Seit den 1960er Jahren entfachen Computer Machtkämpfe: Beim Aufbau von Rechenzentren oder bei der Einrichtung digitaler Infrastrukturen wurde um die Folgen der digitalen Transformation gestritten. Einerseits schien Digitalität das ökonomische Gefälle zwischen Stadt und Land zu verschärfen. Ländliche Räume glaubten sich als Milchkannen am Rand der Datenautobahn abgestellt. Andererseits ermöglichte der Computer ländlichen Regionen wie Gütersloh (Bertelsmann) oder Walldorf (SAP) geradezu kometenhafte Aufstiege und wertete ländliche Peripherien auf. Machtverschiebungen waren die Folge der digitalen Transformation. Der Vortrag untersucht (1) die Einführung von Rechenzentren seit den 1960er Jahren; (2) den Ausbau von ISDN- und Glasfasernetzen seit den 1980er Jahren; (3) die digitale Repräsentation ländlicher Räume seit den späten 1990er Jahren.
Mit Programmen wie LEADER gewann seit den 1990er Jahren ein neues Paradigma ländlicher Entwicklungspolitik an Bedeutung, das auf lokale Netzwerke, partizipative Verfahren und Wettbewerbslogiken setzte. Diese Politik transformierte Machtbeziehungen in ländlichen Räumen: Sie eröffnete neue Handlungsspielräume für lokale Akteure, verfestigte aber zugleich bestehende Hierarchien und Exklusionsmechanismen. Der Vortrag ordnet diese Verschiebungen ein in die größeren Linien globaler Entwicklungspolitik und neoliberaler Gouvernementalität und fragt, wie sich im Spiegel solcher Förderlinien spezifische Machtkulturen in ländlichen Räumen der Bundesrepublik rekonstruieren lassen. Es wird die These vertreten, dass die Implementierung partizipativer Programme nicht nur neue Formen lokaler Selbstorganisation beförderte, sondern auch Eigenlogiken ländlicher Machtstrukturen fortschrieb.