Dirk Schuck, Elisabeth Weiß-Sinn, Fabian Zimmer (Sektionsleitung)

Konsum und Individuation

Themen: Neuere und Neueste Geschichte, Geschlechtergeschichte
Sprache: Deutsch
Ort: Hörsaal 7
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In den letzten zwei Jahrhunderten hat sich Konsum zu einem zentralen Faktor für die Persönlichkeitsbildung in westlichen Gesellschaften entwickelt. Besonders in hochindustrialisierten Ländern wird individueller Konsum als Ausdruck persönlicher Freiheit wahrgenommen. Die Herausbildung solcher konsumgesellschaftlicher Subjektformen blieb nicht ohne gesellschaftliche Kritik. So erregte bereits im 18. Jahrhundert die Formel Bernhard Mandevilles vom Segen einer städtisch-kommerziellen „Multiplikation der Bedürfnisse“ erheblichen moralistischen Widerspruch. Inwiefern hängen konsumorientierte Subjektverständnisse mit einer industriellen Wachstumsökonomie zusammen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt als naturgegeben gilt, heute jedoch an ihre ökologischen Grenzen stößt, während sie zugleich soziale Ungleichheiten vertieft und Abhängigkeiten fördert?

Angesichts dieser Fragen geht die Sektion der gesellschaftsgeschichtlichen Entstehung der Verquickung von Konsum und Individuation, d. h. dem Erleben persönlicher Freiheit durch Konsum nach. Aus ideen- und kulturgeschichtlicher Perspektive soll die Frage nach dem Verhältnis von sozialstrukturellen Voraussetzungen und einer Selbstidentifikation von Subjekten über ihre Konsumpraktiken beleuchtet werden. Hierfür betrachtet die Sektion die Geschichte von persönlichkeitsbildenden Konsumpraktiken der unteren Schichten und ihrer Rezeption in der ökonomischen Literatur der frühen Industrialisierung, Konsumpraktiken von Frauen um 1900 im Spannungsfeld zwischen weiblicher Selbstermächtigung und patriarchaler Kontrolle, sowie die Begriffsgeschichte des Komforts als zentraler Bestandteil bürgerlichen Selbstwertempfindens im 19. Jahrhundert.

Die Beiträge der Sektion vereinen ideen-, kultur- und begriffshistorische Ansätze. Auf drei 20-minütige Vorträge folgt eine halbstündige Diskussion, die Synergie- und Konvergenzpunkte sichtbar machen soll. Ziel ist die Erarbeitung einer gemeinsamen Publikation.

Zur Entstehung eines konsumtiven Besitzindividualismus
Dirk Schuck (Erfurt)

Eine industriegesellschaftliche Ausweitung der Konsumsphäre affiziert im 19. Jahrhundert das Besitzverständnis vor allem der unteren städtischen Schichten. Diese können sich über geringfügigen Konsumbesitz zum ersten Mal selbst als Privatbesitzer:innen imaginieren. These des Vortrags ist, dass dies beitrug zur Etablierung einer bürgerlichen Privateigentumsordnung und im gesellschaftlichen Diskurs präsente Gemeingutvorstellungen zurückdrängte. Dies soll anhand von Beispielen aus der politökonomischen und nationalökonomischen Literatur ausgeführt werden, die eine sozialintegrative Kraft der Verbindung von Konsumpraktiken und besitzindividualistischer Selbstverständnisse aufzeigen und diskutieren.

Das Brautkleid. Symbol von Konsum, Übergang und Objektivierung um 1900
Elisabeth Weiß-Sinn (Würzburg)

Das Brautkleid fungiert um 1900 als „Grenzobjekt“ des Konsums: Es symbolisiert patriarchale Kontrolle, familiäre Repräsentation, weibliche Inszenierung und macht so gesellschaftliche Spannungen sichtbar. Als dezidiert weibliches Konsumgut spiegelt es die ambivalente Rolle der Frau wider – einerseits als Konsumentin, andererseits als Objekt männlicher und familiärer Kontrolle. Während das Brautkleid individueller Selbstdarstellung dient, ist es zugleich Instrument sozialer Differenzierung und reproduziert bürgerliche Werte. Anhand von Modemagazinen, Werbeanzeigen und literarischen Darstellungen wird untersucht, wie das Brautkleid die Spannung zwischen weiblicher Selbstermächtigung und gesellschaftlicher Anpassung verhandelt.

Komfort und Behaglichkeit. Zur Semantik häuslichen Wohlbefindens im 19. Jahrhundert
Fabian Zimmer (Berlin)

Der Begriff der Behaglichkeit wandelt sich im 19. Jahrhundert infolge der Popularisierung des comfort-Begriffs, der zur gleichen Zeit aus dem Englischen ins Deutsche übernommen wird. Beide Begriffe bezeichnen seither ein mildes Gefühl körperlichen Wohlbefindens in häuslichen Umwelten. Der Vortrag argumentiert, dass dieser begriffliche Wandel kein zufälliger ist. Vielmehr fand er in einer Periode statt, in der häusliche Umwelten tiefgreifende Veränderungen erfuhren. Anhand eines breit gefächerten Quellenkorpus erkundet der Beitrag die räumliche Geschichte bürgerlicher Individuierung, indem er nachzeichnet wie mittels „Komfort“ und „Behaglichkeit“ die Technisierung und Industrialisierung häuslicher Umwelten in bürgerliche Selbstentwürfe sowohl integriert wie auch kritisiert werden konnten.

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