Die Macht der Öffentlichkeit(en) und der Umgang mit sexuellem Missbrauch
Die Beschäftigung mit sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt ist noch nicht lange Gegenstand historischer Forschung. Noch ganz am Anfang steht dabei die Beschäftigung mit der Rolle, welche „Öffentlichkeit“ gespielt hat und spielt. Ohne deren „Macht“, ohne Kampagnen Betroffener und Organisationen, die nicht selten auch auf Emotionalisierung setzen, ohne Presseberichte, die teils eine Skandalisierung betreiben, und ohne öffentliche Debatten ist die Geschichte jedoch undenkbar. Weitaus stärker als zuvor werden dabei auch institutionelle und soziale Strukturen der Verschleierung und eine Kultur des Verschweigens beleuchtet. Das gilt in erster Linie für die medial stark im Fokus stehenden beiden christlichen Kirchen, gleichermaßen aber auch für zivile Einrichtungen, Vereine und letztlich auch die Familie. Dabei war und ist für die Entscheidungsträger in- und außerhalb der betroffenen Strukturen der Blick auf die Öffentlichkeit maßgeblich – eine Erkenntnis, die sich auch allmählich durch synchrone und diachrone Vergleiche zu bestätigen scheint.
Das Panel setzt hier an und geht von der Beobachtung aus, dass institutionelle, zivile und mediale Öffentlichkeit(en) den Umgang mit sexualisierter Gewalt entscheidend beeinflussten und beeinflussen. Es möchte die Dynamiken und Wechselbeziehungen zwischen institutionellen Entscheidungsträgern und den Gefahren (und Chancen) öffentlicher Resonanzräume in drei Fallstudien untersuchen. Die Sektion kombiniert komparative synchrone wie diachrone Perspektiven. Die drei Vorträge bieten so Einblicke in die Wechselwirkungen von öffentlichen Reaktionen auf und den institutionellen und gesamtgesellschaftlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch von den 1930er bis in die 1990er Jahre.
Die Sektion wird neben einer fünfminütigen, auf Phänomene der jüngsten Zeitgeschichte ausgerichteten, Einführung aus drei Vorträgen (à 20 Minuten) bestehen und Zeit für eine 25-minütige Diskussion lassen.
Ausgehend von der nationalsozialistischen Kampagne rund um die „Sittlichkeitsprozesse“ fragt der Beitrag nach Wechselwirkungen zwischen Öffentlichkeit und innerkirchlichem Umgang mit Missbrauchsfällen. Wie veränderten mediale Berichterstattung und der öffentliche Druck kirchliche Verfahrensnormen seit den 1930er Jahren? Welche Voraussetzungen bestanden und welche Bedeutung wurde neugeregelten Geheimhaltungsstandards beigemessen? Welche Rolle spielten einzelne Bischöfe und wie wirkten temporäre Sonderlösungen bis in die Zeit nach 1945? Der Vortrag will zeigen, dass ein Schlüssel zum Verständnis des kirchlichen Umgangs mit sexuellem Missbrauch in der Kenntnis der Verfahrensnormen und ihrer Anpassung liegt.
In der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zeigt sich für die 1950er bis 1980er Jahre eine uneinheitliche Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt und „Öffentlichkeiten“ im kirchlichen Raum. Das Handeln auf Gemeinde-, mittlerer Ebene und Kirchenleitung war nicht aufeinander abgestimmt und harmonierte nur bedingt mit dem von weltlichen Entscheidungsträgern und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Die institutionelle und gemeindliche Öffentlichkeit bewertete Fälle sexualisierter Gewalt als Einzelfälle und nahm strukturelle Probleme nicht wahr. Inwiefern bestimmten Erfahrungen der NS-Zeit und die Aufwertung der Gemeinden dieses System der konkurrierenden „Öffentlichkeiten“, das Eingriffsmöglichkeiten einschränkte?
In den 1980er und 1990er Jahren wandelte sich in der BRD der Diskurs über sexuellen Missbrauch an Kindern. Um 1980 begannen Frauen, die Missbrauch erlebt hatten, ihre Gewalterfahrungen zu dokumentieren und Erkenntnisse zu formulieren und widersprachen den Deutungen in Medien, Politik und Wissenschaft. Die Aktivistinnen setzten ihre Autorität als Betroffene ein, um mit Hilfe öffentlicher Aufmerksamkeit Druck auf politische Akteur:innen und Einfluss auf den Fachdiskurs sowie Beratungs- und Therapieformen auszuüben. Der Vortrag fragt danach, wie die Aktivistinnen diese unterschiedlichen Öffentlichkeiten beeinflussten und damit langfristig die Debatten prägten.