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Vortragstitel:
Ritualisierungen von Gewalt im Athen des 4. Jhs. v. Chr.
Tag:
01.10.2010
Epoche:
Alte Geschichte
Sektion:
Grenzen der Gewalt

Abstract:

Ritualisierungen von Gewalt im Athen des 4. Jhs. v. Chr.

Referent/in: Werner Riess, Chapel Hill


Abstract

Die Frage nach dem Grad der interpersonellen Gewaltanwendung unter athenischen Bürgern der klassischen Zeit beschäftigt die anthropologische und rechtshistorische Forschung seit geraumer Zeit. Da eine Quantifizierung aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht möglich ist, schlägt dieser Vortrag eine andere Richtung ein. Es soll darum gehen, den Symbolgehalt dieser Form der Gewalt herauszuarbeiten und im Anschluss zu prüfen, inwieweit er mit den zur Verfügung stehenden Medien rituell an eine breitere Öffentlichkeit vermittelt wurde und somit auch zu einer partiellen Einhegung der Gewalt beitrug.
Im Gegensatz zu anderen griechischen Poleis zeichnet sich Athen beinahe zweihundert Jahre lang (5./4. Jh.) durch eine erstaunliche soziale und politische Stabilität aus. Die Frage drängt sich auf, wie diese bei einer weitgehenden Absenz von Polizeikräften im modernen Sinn bewerkstelligt wurde. Dieses historische Erkenntnisinteresse beinhaltet die Suche nach der Perzeption der Gewalt gegen Bürger durch die Athener selbst, ihre Reaktion auf solche Gewaltakte und ihre kulturspezifische Konstruktion der flexiblen Grenze zwischen akzeptabler und inakzeptabler Gewalt.
Ritualtheoretische Ansätze stellen das methodische Instrumentarium zur Verfügung, die symbolische Bedeutung der Gewalt zu entziffern. Im klassischen Athen können die Aufführung einer Gerichtsrede, die von formelhaften Sprechakten begleitete Niederlegung einer Fluchtafel und die Inszenierung einer Komödie als ritualistische Prozesse verstanden werden. Alle drei Quellengattungen bewahren einen ursprünglich performativ inszenierten Diskurs über Gewalt, der in einen jeweils ritualistischen Rahmen eingebettet war. Die Gerichtsreden zeugen von den Strategien, mit denen die Sprecher ihre eigene Gewaltanwendung zu legitimieren und derjenigen ihrer Gegner jegliche Rechtmäßigkeit abzusprechen suchten. Der Symbolgehalt eines Gewaltaktes lag in der Anzahl und Bedeutung der verletzten Normen. Wer einen Gegner verfluchte, folgte ebenfalls rituellen Vorgaben. Obgleich die Sprache auf den Täfelchen sehr formelhaft ist, ist doch ein breites Spektrum an feindseligen Intentionen auszumachen. Eine Diskursanalyse aller athenischen Fluchtafeln der klassischen Zeit kann nachweisen, dass das Gewaltpotential, das diesen Tafeln eingeschrieben war, höher war als bislang von der Forschung angenommen, ja u.U. sogar den Tod des Gegners implizieren konnte. Zudem verlief der Vorgang des Fluchens in vielerlei Hinsicht parallel zum Ablauf eines Gerichtsprozesses. Während Gerichtsreden und Fluchtafeln indirekte Formen der Gewaltausübung darstellen, vermitteln uns die Komödien Aristophanes’ und Menanders einen sozialen Metakommentar zur Gewalt. Beide Komödienautoren problematisieren Gewalt auf der Bühne jeweils sehr eigenständig. Während Gewalt auf der aristophanischen Bühne allgegenwärtig, jedoch oftmals verzerrt und damit der Welt der Zuschauer entrückt wird, verknüpft Menander den Gewaltdiskurs mit dem Demokratiediskurs so eng, dass beide schließlich ununterscheidbar werden.
Alle drei Quellengattungen sprechen bei allen genrespezifischen Unterschieden einen ähnlichen Gewaltdiskurs: nur mittelbare Gewalt war unter ganz bestimmten Bedingungen akzeptabel. Die symbolische Bedeutung von Gewalt wurde größtenteils durch Rituale konstruiert, weniger von Gesetzen definiert. Da gerade der in den Reden und in den Komödien öffentlichkeitswirksam inszenierte Gewaltdiskurs auf die Lebenswelt der Athener rückwirkte, besteht zumindest die Möglichkeit, dass auch die konkrete Gewaltanwendung zum Teil ritualisiert wurde, was wiederum pazifizierende Effekte gehabt haben könnte. Die kommunikative Funktion des Rituals auf Diskurs- und Interaktionsebene trug damit zur Einhegung extremer Gewalt wesentlich bei und leistete mit einen wesentlichen Beitrag zur Regierbarkeit Athens.