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Vortragstitel:
Reichtum und Armut als Werk der Fortuna: spätmittelalterliche Text- und Bildzeugnisse
Tag:
30.09.2010
Epoche:
Geschichte des Mittelalters
Sektion:
Grenzenloser Reichtum? Spätmittelalterliche Reflexionen über Geld, Gier und das Glück

Abstract:

Reichtum und Armut als Werk der Fortuna: spätmittelalterliche Text- und Bildzeugnisse

Referent/in: Gabriele Annas, Frankfurt/M.


Abstract

Reichtum und Armut als Werk der Fortuna: Obgleich heidnisch-antiken Ursprungs – als Personifikation des unberechenbaren menschlichen Geschicks und zugleich Göttin irdischer Glücksgüter – hat die Gestalt der Fortuna auch im moralphilosophischen und politischen Diskurs des christlichen Mittelalters eine durchaus prominente Rolle gespielt. Denn in Verbindung mit der komplexen Fortuna-Problematik wurden zugleich zentrale philosophische und theologische Fragestellungen aufgeworfen, die in Traktaten und Geschichtswerken, in Romanen und anderen literarischen Schriften, aber auch in der visuellen Kultur (in der Bauskulptur, in der Buchmalerei sowie auf Tapisserien) immer wieder aufs Neue – als gedankliche Dichotomie von providentieller Weltordnung und Freiheit des menschlichen Willens – thematisiert wurden. Symbolträchtiges Sinnbild für die Wechselhaftigkeit des Irdischen, die Unberechenbarkeit des menschlichen Daseins zwischen Glück und Unglück, Reichtum und Armut, war das stetig kreisende Schicksals- und Glücksrad des Mittelalters, das von Fortuna maschinell mit einer Kurbel von außen bedient oder durch einen Griff in die Speichen vom Zentrum aus in Bewegung gehalten wurde. Neben der tradierten Schicksalskonzeption des früh- und hochmittelalterlichen Fortuna-Diskurses sollte sich indes spätestens seit dem Quattrocento – nach ersten Vorläufern bereits in staufischer Zeit – ein neues Bild der Glücks- und Schicksalsgöttin konstituieren, die nun durch tugendhaftes Verhalten, durch moralische Festigkeit und Geistesstärke des vernunftbegabten, eigenverantwortlich handelnden Individuums „domestiziert“ werden konnte. Ist die Fortuna des Boethius (Consolatio Philosophiae) als Dienerin Gottes dem göttlichen Bereich der providentiellen Ordnung zugeordnet und damit zugleich dem menschlichen Einflussbereich entzogen, so entgleitet im späten Mittelalter die Schicksalsmacht der göttlichen Sphäre und wird zu einem wesentlichen Bestandteil des menschlichen Erfahrungsbereichs. Indem der einzelne die günstige Gelegenheit nutzt – und das Glück beim Schopfe fasst –, kann er das rotierende Rad der Fortuna zum Stillstand bringen und die erworbenen Glücksgüter (Reichtum, Ehre, Macht) bewahren oder gar vermehren.