Ökonomien der Aufmerksamkeit im 20. Jahrhundert. Eine transnationale Perspektive auf Techniken der Messung, Vermarktung und Generierung von Aufmerksamkeit

(30. September 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.501)

Leitung: Dr. Christiane Reinecke, Berlin / Dr. Malte Zierenberg, Berlin



1. Der Zuschauer. Die Konstruktion einer Figur der Aufmerksamkeitsökonomie im 20. Jahrhundert

Referent/in: Dr. Malte Zierenberg, Berlin


2. Der Markt der politischen Meinungen: Meinungsforschung und Öffentlichkeit in transnationaler Perspektive, 1930–1960

Referent/in: Dr. Bernhard Fulda, Cambridge


3. Meinung mit und ohne Markt. Zur Rolle der Umfrageforschung in DDR und Bundesrepublik

Referent/in: Dr. Christiane Reinecke, Berlin


4. Kartographierung sozialer Unterschiede: Zur Messung und Vermarktung soziokultureller Daten in Großbritannien

Referent/in: Dr. Kerstin Brückweh, London


5. Aufmerksamkeit für Europa. Eurobarometer, empirische Sozialforschung und die Europäische Kommission, 1962–1979

Referent/in: Dr. Anja Kruke, Bonn


6. Kommentar

Referent/in: Prof. Dr. Axel Schildt, Hamburg


Abstract

Eine der wichtigsten Tendenzen des 20. Jahrhunderts bildet aus medienhistorischer Perspektive die Verschränkung unterschiedlicher Ebenen der Aufmerksamkeitsgenerierung mit der sich professionalisierenden Messung und Bewertung von Einstellungen in der Mediengesellschaft. Während sich in den modernen Mediengesellschaften das individuelle Konsumverhalten sowie das politische und kulturelle Handeln einerseits zunehmend an der Berichterstattung in den Medien orientierte, wuchs andererseits die Nachfrage nach Informationen über die Vorlieben der Konsumenten, Zuschauer und Wähler. Deren Marktmacht gewann an Bedeutung, während zugleich neuen Techniken der wissenschaftlichen Beobachtung immer mehr Gewicht zukam. Zu diesen Techniken gehörten sowohl die neuen demoskopischen Verfahren der Markt‐ und Meinungsforschung als auch die staatliche Beobachtung politischer Einstellungen durch Geheim‐ und Sicherheitsdienste oder die privatwirtschaftlichen Versuche, die populärkulturelle Produktion von Sinnwelten (etwa im Hollywood‐Kino) ertragreich zu machen. Um deren Aufstieg historisch verorten und in Wechselwirkung mit anderen Feldern analysieren zu können, erscheint eine wissenshistorische Perspektive besonders vielversprechend. Denn während den neuen Techniken der Aufmerksamkeitsmessung spezifische Konstruktionen des Sozialen zugrunde lagen, begannen sie ihrerseits, die soziale Wirklichkeit in der Mediengesellschaft zu strukturieren und auszurichten.

Mit Blick auf diese Entwicklungen verknüpft die hier vorgeschlagene Sektion eine wissensgeschichtliche mit einer transnationalen Perspektive. Im Zentrum der gemeinsamen Überlegungen steht die Frage, wie sich in unterschiedlichen nationalen Kontexten das Aufkommen der Umfrage‐, Markt‐ und Meinungsforschung auswirkte, die sich im großen Stil den Lebensweisen, Vorlieben und Erwartungen von Wählern, Konsumenten und Rezipienten widmete. In welchen historischen Zusammenhängen konnten diese Techniken der Aufmerksamkeitsmessung an Einfluss gewinnen und wie wirkten sie sich ihrerseits auf das Verständnis von Politik und Öffentlichkeit, Wirtschaft und Sozialstruktur aus? Bei der gemeinsamen Diskussion soll es dabei auch darum gehen, übereinstimmende Phasen oder Zäsuren zu konturieren und danach zu fragen, inwieweit die hier formulierte Perspektive neue Periodisierungsvorschläge notwendig macht – oder bestehende bestätigt.

Die Sektion versteht sich dabei in mehrfacher Hinsicht als „grenzüberschreitend“. Erstens lassen sich die genannten Tendenzen im 20. Jahrhundert nur durch eine transnationale Perspektive analysieren, die den vielfältigen Transfers von Konzepten, Fragen und Methoden im Bereich der Umfrageforschung gerecht wird. Indem mit dem Beispiel der DDR ein Untersuchungsfeld behandelt wird, das das Problem der Aufmerksamkeitspraxen unter den grundsätzlich anderen Bedingungen einer Diktatur thematisiert, lenkt die Sektion das Augenmerk zweitens auf systemische Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Schließlich entleiht die Sektion mit dem Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie drittens ein Konzept der Medientheorie und fragt nach Chancen und Grenzen der Anwendung im grenzüberschreitenden Diskurs der Disziplinen.

Der von Georg Franck formulierte Ansatz, die moderne Mediengesellschaft als einen Markt zu begreifen, auf dem in der Währung Aufmerksamkeit verrechnet, gezahlt und akkumuliert wird, ist bis heute von der Geschichtswissenschaft nicht aufgegriffen worden, obwohl er wichtige Erträge für die Analyse der Mediengesellschaften des 20. Jahrhunderts verspricht. Denn mit der Analyse zirkulierender Aufmerksamkeiten rücken zentrale Aspekte der Teilhabe an medial vermittelten Aushandlungsprozessen sowie des Umgangs mit Öffentlichkeit im modernen Staat in den Blick. Indem das Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie ökonomische mit medialen Logiken verknüpft, ermöglicht es auf produktive Weise, die Grenzen zwischen unterschiedlich strukturierten Öffentlichkeiten und zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen – Politik, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft – auszumessen und zu überbrücken. Vor diesem Hintergrund untersucht die hier vorgeschlagene Sektion die Wechselwirkungen unterschiedlicher Aufmerksamkeitsordnungen, indem sie Praktiken der Generierung und Vermessung von Aufmerksamkeit in verschiedenen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontexten zueinander in Bezug setzt.

Die einzelnen Vorträge fragen nach privatwirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Praktiken der Aufmerksamkeitsmessung, ‐generierung und ‐steuerung in Deutschland, Westeuropa und den USA. Dabei wird Malte Zierenberg sich in seinem Beitrag mit der Figur des Zuschauers und dem Prozess seiner Konstruktion im Spannungsfeld zwischen empirischer Forschung, Medientheorie und Politik im Laufe des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, während Bernhard Fulda sich mit der Entwicklung eines Marktes für politische Meinungen in den USA und Westeuropa befasst, um in diesem Zusammenhang auf den Einfluss der politischen Meinungsforschung auf Politik und Wahlkampfführung einzugehen. Christiane Reinecke vergleicht in ihrem Beitrag die Rolle der Umfrageforschung in der DDR mit der in der Bundesrepublik und setzt sich mit der Frage auseinander, wie sich die unterschiedlich strukturierten Öffentlichkeiten und divergierenden politischen Umstände auf die Entwicklung empirischer Umfragen auswirkten. Kerstin Brückweh wiederum wendet sich der britischen Tradition der „geodemographischen“ Forschung zu. Ausgehend von deren verräumlichter Erfassung soziokultureller Daten fragt sie nach der sich wandelnden Konstruktion sozialer Unterschiede und ihrer Vermarktung durch Institute in Großbritannien. Anja Kruke schließlich setzt sich in ihrem Beitrag anhand des „Eurobarometers“ mit der Europäischen Kommission als Auftraggeber von Umfragen auseinander und beleuchtet, wie in diesem Kontext die empirischen Sozialwissenschaften eine europäische Identität und Öffentlichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu stiften suchten. Axel Schildt schließlich kommentiert diese Beiträge.

Vorträge Epoche
Der Zuschauer. Die Konstruktion einer Figur der Aufmerksamkeitsökonomie im 20. Jahrhundert Neuere/Neueste Geschichte
Der Markt der politischen Meinungen Neuere/Neueste Geschichte
Meinung mit und ohne Markt. Zur Rolle der Umfrageforschung in DDR und Bundesrepublik Neuere/Neueste Geschichte
Kartographierung sozialer Unterschiede: Zur Messung und Vermarktung soziokultureller Daten Neuere/Neueste Geschichte
Aufmerksamkeit für Europa. Eurobarometer, empirische Sozialforschung und die Europäische Kommission Neuere/Neueste Geschichte