Zeitgeschichtliche Forschungen über Fächergrenzen und die Grenzen des Fachs

(29. September 2010 - 15.15 bis 18 Uhr - HS 1-204)

Leitung: Dr. Rüdiger Graf, Bochum / Dr. Kim Christian Priemel, Berlin


 

1. Moderation

Referent/in: Prof. Dr. Willibald Steinmetz, Bielefeld


2. Theorien der Politik in der Zeitgeschichte. Internationale Beziehungen und Energie in den 1970er Jahren

Referent/in: Dr. Rüdiger Graf, Bochum


3. Empirische Sozialforschung als „Erkenntnisgegenstand“ und „Quellenmaterial“

Referent/in: PD Dr. Benjamin Ziemann, Sheffield


4. Medienwissenschaftliche Studien als Herausforderung der Zeitgeschichte

Referent/in: Dr. Christina von Hodenberg, London


5. Strukturwandel. Transfergeschichte eines wirtschaftswissenschaftlichen Konzepts

Referent/in: Dr. Kim Christian Priemel, Berlin


6. Kommentar: Andreas Wirsching, Augsburg



Abstract

Aus mehreren Gründen sind Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker in ihrer Arbeit besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt. Erstens sind die Geschichten, die sie erzählen wollen, in stärkerem Maße unabgeschlossen und damit auch revisionsanfälliger als Schilderungen weiter zurückliegender Prozesse. Zweitens bringt die Tatsache, dass sie oft auch Zeitzeugen der behandelten Epoche sind, nicht nur den Vorteil der genauen Kenntnis des Untersuchungsgegenstandes mit sich, sondern ebenso die Probleme der Parteilichkeit oder zumindest eine biographisch verengte Perspektive, zumal die Auseinandersetzungen, deren Zeitgenossen sie waren, oftmals noch andauern. Drittens zeichnet sich die Beschäftigung mit der unmittelbaren Vergangenheit durch eine quantitative und qualitative Ausweitung der verfügbaren Quellen aus. Viertens schließlich
wird die Zeitgeschichte vielfach als gleichsam mobile Disziplin begriffen, deren epochale Zuständigkeit sich fortwährend verschiebt, woraus intra- wie interdisziplinäre Abgrenzungsprobleme resultieren.

Die Besonderheit zeithistorischer Quellen wurde zwar häufig diskutiert, aber meist auf den Aspekt des Umgangs mit den nicht schriftlichen Quellen wie Bild-, Film- oder Tondokumenten verengt. Demgegenüber soll sich das Panel einer anderen Quellengattung und den aus ihr speziell für die Zeitgeschichte resultierenden Problemen widmen. Im Zuge der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) und der Politik seit dem 19., vor allem aber im 20. Jahrhundert haben Ökonomen, Rechts-, Sozial- und Politikwissenschaftler Beschreibungen ihrer Gegenwart produziert, die für uns heute wertvolle Quellen darstellen, aber auch schwierige methodische Fragen aufwerfen. Als die Sozialgeschichte in den 1960er Jahren antrat, die sozialwissenschaftlichen Methoden ihrer Gegenwart auf die Vergangenheit anzuwenden, musste sie zunächst in aufwändigen Verfahren Datenreihen erstellen, um diese dann auswerten zu können. Für die Geschichte vor allem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt sich die Situation inzwischen grundsätzlich anders dar. Hier liegen bereits zeitgenössische sozialwissenschaftliche Bearbeitungen und Analysen der Problemzusammenhänge vor, so dass die Konstitutionsleistung der Geschichtswissenschaft geringer ausfällt. Denn die Grundkategorien dieser zeitgenössischen Beschreibungen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge scheinen sich zunächst nicht wesentlich von unseren heutigen zu unterscheiden und schon gar nicht von den Paradigmen der Sozialgeschichte. So werden in der Zeitgeschichte häufig theoretische Zugänge gewählt, die jenen Nachbardisziplinen entlehnt sind, deren Ergebnisse als Quellen genutzt werden, mit der Folge, dass auf ähnliche Fragen mit ähnlichen Mitteln ähnliche Antworten gefunden werden; und mit der Gefahr, dass die historische Analyse zeitgenössische erkenntnistheoretische Muster und Perspektiven unkritisch reproduziert. 

Welche Forderungen resultieren daraus an eine Zeitgeschichtsschreibung, die mehr sein will als die Zusammenfassung und Fortschreibung vergangener Forschungsleistungen der Nachbardisziplinen? Wo geht die Analyse der Sozialhistorikerin über die des zeitgenössischen Sozialforschers hinaus? Mit welchen Methoden überschreitet der Politikhistoriker den Informationsstand und vor allem die Interpretationskategorien des gut informierten politischen Beobachters? Wie geht die Wirtschaftshistorikerin mit den zeitgenössisch aufbereiteten Datensätzen um? (Wie) lassen sich Theoriegebäude historisieren und zugleich erkenntnisfördernd nutzen? 

Neben diesen Fragen der Originalität und Eigenständigkeit des wissenschaftlichen Beitrags der Zeitgeschichte stellt sich also eine fundamentalere Frage für die Untersuchung und Interpretation der Geschichte der jüngsten Vergangenheit: Da die Sozialwissenschaften selbst historisch sind, müssen auch ihre Produkte historisiert werden. Sie sind spezifische Formen der Welterkenntnis, die Wirklichkeit strukturieren, bestimmte Dinge und Aspekte sehen lassen, andere aber ausblenden. Diese wirklichkeitskonstituierende Funktion der Sozialwissenschaften gilt es, in die historiographische Analyse einzubeziehen, anstatt ihre Ergebnisse einfach zu reproduzieren und die Welt der Sozialwissenschaften fortzuschreiben. Kurz, die sozialwissenschaftlichen Darstellungen und Analysen sind in ihrer Doppelfunktion zu würdigen und zu nutzen: als Teil des Problems (des Untersuchungsgegenstandes) wie auch als Teil der Lösung (der Untersuchung). 

Ziel des Panels ist es, das interdisziplinäre Feld abzustecken, auf dem sich die Zeitgeschichte bewegt, und die Relationen des Fachs zu den Nachbardisziplinen exemplarisch zu vermessen. Vorträge zur Interaktion der Zeitgeschichte mit Sozial- und Medien-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften analysieren, wie die Disziplin mit Ergebnissen ihrer Nachbarn umgeht, welches Potential die Überschreitung von Fächergrenzen birgt und welche Probleme daraus resultieren. 

Im Kern geht es allen Beiträgen darum, das Proprium und den Mehrwert der spezifisch historischen Perspektive auf die Gegenstände sozialwissenschaftlicher Forschung zu bestimmen. Ferner wird danach gefragt, wie andere Wissenschaftskulturen mit diesem Problem umgehen: Schon vor drei Jahrzehnten überlegte Alan Bullock, ob die Zeitgeschichte zur Sozialwissenschaft werde – hat die Entwicklung der Contemporary History dies bestätigt? Schließlich wird im Kommentar ein zusammenfassender und vergleichender Blick auf die disziplinäre Reflexion gerichtet: In welcher Relation steht die Zeitgeschichte zu den Sozialwissenschaften, und welche Positionierungen stehen ihr offen? Kurz: wo und wie können die Grenzen des Fachs künftig verlaufen?

Vorträge Epoche
Theorien der Politik in der Zeitgeschichte. Internationale Beziehungen und Energie in den 1970ern Neuere/Neueste Geschichte
Empirische Sozialforschung als "Erkenntnisgegenstand" und "Quellenmaterial" Neuere/Neueste Geschichte
Medienwissenschaftliche Studien als Herausforderung der Zeitgeschichte Neuere/Neueste Geschichte
Strukturwandel. Transfergeschichte eines wirtschaftswissenschaftlichen Konzepts Neuere/Neueste Geschichte