Furcht und Liebe. Semantische Grenzen der Affekte und affektuelle Grenzen des Handelns in der europäischen Vormoderne

(30. September 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.301)

Leitung: Dr. Andreas Bähr, Berlin / Claudia Jarzebowski, Berlin



1. Love and Fear in the Catechisms of Luther and Canisius

Referent/in: Prof. Dr. Lee Palmer Wandel, Madison / WI


2. Lieben und Herrschen. Fürstenerziehung im späten 15. und 16. Jahrhundert

Referent/in: Dr. Claudia Jarzebowski, Berlin


3. Die Furcht vor dem Leviathan. Furcht und Liebe in der politischen Theorie des Thomas Hobbes

Referent/in: Dr. Andreas Bähr, Berlin


4. Love as a Code of Social Competence

Referent/in: Prof. Dr. Gadi Algazi, Tel Aviv


5. Kommentar

Referent/in: Prof. em. Dr. Martin Schaffner, Basel


Abstract

In den letzten Jahren erfreut sich die Beschäftigung mit „Gefühlen“ und „Emotionen“ auch in
der Geschichtswissenschaft zunehmender Beliebtheit. Basierend auf der Einsicht, dass Emotionen
nur über die kulturellen Codierungen zugänglich sind, die sie artikulierbar machen, werden
zunehmend nicht nur historische Gefühlslagen (wie in frühen psycho- und mentalitätshistorischen
Studien), sondern zunächst auch ihre Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen historisiert.
Selbst diese Arbeiten jedoch unterstellen in aller Regel eine anthropologisch gegebene
Gefühlssubstanz hinter dem Text. Dagegen versucht die vorgeschlagene Sektion eine konsequente
Historisierung der Rede von Gefühlen, indem sie diese nach ihren gesellschaftlich-kulturellen
Selbstbeschreibungsfunktionen befragt. Sie zielt auf eine Geschichte historisch-kultureller Leitkonzepte,
die, anders etwa als im Projekt der „Geschichtlichen Grundbegriffe“, nicht mit Gegebenheiten
des politisch-sozialen Lebens, sondern mit Zuständen einer personalen „Innerlichkeit“
assoziiert sind. Auch Begriffe des subjektiven Empfindens, so die These, geben Aufschluss über
grundlegende Werte, Normen und Handlungsoptionen einer Gesellschaft.

Mit „Furcht“ und „Liebe“ wurden dafür zwei Schlüsselkonzepte ausgewählt, die in Mittelalter
und Früher Neuzeit eine vielschichtige Komplementarität aufwiesen. In Abhängigkeit
davon, was unter „Furcht“ und „Liebe“ jeweils verstanden wurde, konnten sie entweder einen
Gegensatz darstellen oder aber zur Deckung kommen. Beispielhaft verdeutlichen dies die von
Machiavelli angestoßene Debatte, ob der Fürst von seinen Untertanen gefürchtet oder geliebt
werden sollte, sowie der zentrale Begriff der Gottesfurcht, der ohne die Liebe zum Herrn ebenso
wenig gefasst werden konnte wie ohne die göttliche Einheit von liebendem Vater und Furcht
erregendem Rächer. „Furcht“ und „Liebe“ waren ohne einander nicht zu denken.

Die Sektion konzentriert sich auf die Vormoderne, in der „Furcht“ und „Liebe“ nicht als
„Emotionen“, sondern als „Affekte“ aufgefasst wurden. Sie will damit die Unterschiede markieren
zu einer Aufklärung, in der das spezifisch psychologische Konzept des „Gefühls“ entwickelt
wurde, wie es in der Forschung bis heute wirkmächtig ist. Dabei scheint zum einen eine wichtige
Epochengrenze auf. Zum anderen steht in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rede über Zustände der „Innerlichkeit“ die (spezifisch moderne) Grenzziehung zwischen Individuum und
Kollektiv auf dem Prüfstand. Zum dritten schließlich zeigt sich in den (begrenzten) historischen
Möglichkeiten, über Furcht und Liebe zu sprechen, auch deren Funktion, normative Grenzen zu
setzen: In den historischen Unterscheidungen zwischen rechter und falscher Furcht sowie zwischen
zulässiger und unzulässiger Liebe manifestieren sich Prozesse der In- und Exklusion, die
weitreichende kulturelle, gesellschaftliche und politische Wirkungsmacht entfalteten. Doch Konzepte
von Furcht und Liebe setzten nicht allein Grenzen: Darüber hinaus eignete ihnen das Potential,
Grenzen zu unterlaufen und die von ihnen markierten Räume zu destabilisieren. Ihre affektuelle
Unberechenbarkeit und Ambivalenz erlaubte es bereits in der Frühen Neuzeit, Furcht
und Liebe zur Begründung und Legitimation der Überschreitung normativer Grenzen einzusetzen.

Vorträge Epoche
Love and Fear in the Catechisms of Luther and Canisius Frühe Neuzeit
Lieben und Herrschen. Fürstenerziehung im späten 15. und 16. Jahrhundert Frühe Neuzeit
Die Furcht vor dem Leviathan. Furcht und Liebe in der politischen Theorie des Thomas Hobbes Frühe Neuzeit
Love as a Code of Social Competence Frühe Neuzeit