Passagen über Grenzen

(01. Oktober 2010 - 9.15 bis 13 Uhr - HS 1.501)

Leitung: PD Dr. Matthias M. Tischler, Dresden / Barcelona



1. „Passagen über Grenzen“. Einführung in ein Forschungsparadigma

Referent/in: PD Dr. Matthias M. Tischler, Dresden / Barcelona


2. Construction religieuse du territoire et processus d’islamisation au Maroc (IXe–XIIIe siècle)

Referent/in: Dr. Yassir Benhima, Paris


3. Mittelalterlicher „Datenverkehr“ und seine Hürden. Zu Verzerrungen im Rahmen der Informationsvermittlung zwischen lateinisch-christlicher und arabisch-islamischer Welt

Referent/in: Dr. Daniel König, Paris


4. Multireligiosität im höfischen Leben. Barrieren und Grenzen?

Referent/in: Jun.-Prof. Dr. Jenny Rahel Oesterle, Bochum


5. Barrieren – Passagen. Jüdische Eliten, Religionsgesetz und die Gestaltung des Minderheiten-Mehrheiten-Verhältnisses zwischen Juden und Nicht-Juden auf der Iberischen Halbinsel

Referent/in: Jun.-Prof. Dr. Frederek Musall, Heidelberg


Abstract

Theoretischer Ansatz und Fragestellungen

Für den 48. Deutschen Historikertag 2010 in Berlin wurde als Generalthema „Über Grenzen“ ausgegeben. Hintergrund dieser Berliner Themenvorgabe im Jahr 2009 ist die vor 20 Jahren sich anbahnende Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, die heute in erster Linie als eine Überschreitung, dann Überwindung politisch-geographischer Grenzen gewertet wird. Unsere Sektion möchte demgegenüber andere Akzente setzen, indem sie in der Vormoderne die kulturellen und religiösen Aspekte des Grenzbegriffs betont und hierzu überlegt, welchen Beitrag zur Schaffung und Überschreitung von Grenzen im kulturellen, religiösen und sozialen Zusammenleben die Durchschreitung von Räumen geleistet hat. Es geht uns also nicht um ein essentialistisches Denken in vorgegebenen ‚Grenzen’ und ‚Grenzräumen’, sondern gerade um die Frage von bi- und multipolaren Korrespondenzen und um die damit einhergehenden Konstruktion von Räumen der Begegnung mit dem Fremden sowie der Wahrnehmung und Deutung dieses Fremden als dem Anderen. Es sollen also Prozesse der Schaffung und Überschreitung von Grenzen zwischen sich hierdurch ausdifferenzierenden kulturellen, religiösen und sozialen Entitäten in den Blick genommen werden. Diese Prozesse bezeichnen wir als ‚Passagen’ und verstehen hierunter Raum und Zeit durchschreitende Kognitionsprozesse. Die Beiträge unserer Sektion werden insbesondere der Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen den kulturellen, religiösen und sozialen Räumen dieser Begegnungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse, den durch sie gestalteten Texträumen im Sinne von jederzeit betretbaren ‚Passagenräumen der Erinnerung’ und den durch diese kognitiven Wissensräume erneut geformten kulturellen, religiösen und sozialen Räumen nachgehen. ‚Passagen’ schaffen nach unserem Verständnis einen dritten, mentalen Raum zwischen sozialen und Texträumen: den Raum des kulturellen Gedächtnisses.

Um die Prozesse von kultureller und religiöser Wahrnehmung und Deutung zwischen Eigenem und Fremden als komplexe Konstruktionsprozesse zwischen sich wechselseitig bedingenden sozialen und textlichen Räumen begreifbar zu machen, wollen wir diesen dritten Raum in einer Art ‚Topographie der Erinnerung’ mit folgenden Fragen näher beschreiben und analysieren: Was löst auf der eigenen wie anderen Seite ‚Passagen’ aus, wie werden sie gestaltet (Orts-, Gruppen- und Verbandswechsel; Wechsel der Lebensform …) und wodurch werden diese ‚Passagen’ in ihrem Verlauf konditioniert (Neugierde, Vorprägungen, Empirie, Vernunft …)? Zu welchen Zeiten werden ‚Passagen’ der Begegnung, Wahrnehmung und Deutung in welchen kulturellen, religiösen und sozialen Milieus zugelassen und wer sind ihre Akteure? Sind ‚Passagen’ die Regel oder die Ausnahme menschlichen Erkenntnisgewinns? In welche Medien (Texte, Bilder, Kunst, Architektur …) werden ‚Passagen’ eingeschrieben, wo sind sie in diesen Medien verortet und wie sind sie dort strukturiert? Für wen sind diese Medien bestimmt, für wen überhaupt zugänglich und für wen letztlich nutzbar? Und wie wirken diese Medien wiederum auf die künftige Gestaltung von realen ‚Passagen’ ein? Um der Kritik an einer Suche nach zu viel Harmonie, nach zu viel ‚Konvivenzgesellschaft’ im Mittelalter, vorzubeugen, werden die Beiträge der Sektion stets im Auge behalten, inwiefern ‚Passagen’ auch Konflikte befördert haben.

Unser Ansatz vereinigt mindestens drei bereits etablierten Forschungsparadigmen: die Beziehungsgeschichte von Personen, Gruppen und Gesellschaften in ihren kulturellen Ausdrucksformen, den Kulturtransfer und die Kulturtransformation sowie den historischen Vergleich. Aber als Raumkonzept, das nicht mehr wie der ‚Transfer’ eine einseitige und monoperspektivische Beziehung zwischen einem Ausgangs- und einem Zielpunkt von Prozessen der ‚Transformation’, sondern vielmehr zwei miteinander kommunizierende Pole bzw. Seiten in ihrer wechselseitigen Beziehung beschreibt und dabei auch nicht so sehr auf absichtliche Übertragungs- und Überformungsvorgänge abhebt, reichern ‚Passagen’ die drei eben genannten Wissenschaftskonzepte auch insofern an, als sie ein offenes, möglichst wertfreies Konzept anbieten, das ‚Grenzen’ als sich wechselseitig herausbildende mentale Übergangszonen (‚zones médianes’) und nicht mehr als gegebene geographische Größen begreift. Dies dürfte am ehesten den Wirklichkeitserfahrungen im Mittelalter entsprechen, die sich nicht allein auf politische und militärische Konfliktlagen verengen lassen. Da ‚Passage’ keine Einbahnstraße, sondern ein Konzept von Korrespondenzen und wechselseitigen Perspektiven ist, erweist sich das Denken von ‚Passagen’ auch als eine Form des wissenschaftlichen Vergleichs.

Nicht zuletzt endet nach den Einsichten der modernen Philosophie (Michel Foucault) die Konstruktion und Überwindung von Grenzen in einer erkenntnistheoretischen Aporie, weshalb die Suche nach einer neuen Deutungskategorie, die zugleich Ereignis, Struktur und Erkenntnismittel ist, diesem permanenten Wechselspiel von Einhegung und Erweiterung der Einsicht in das Eigene, Fremde und Andere am ehesten gerecht wird. ‚Passagen’ ermöglichen das Überschreiten von mentalen und realen Grenzen zwischen zwei Seiten und konstituieren auf diese Weise überhaupt erst verschiedene kulturelle, religiöse und soziale Entitäten und Räume. Das Denken in ‚Passagen’ vermeidet die epistemologisch ohnehin unmögliche essentialistische Inbezugsetzung von fixen, monolithischen und homogenen Größen (‚Kultur’, ‚Religion’ …) und beugt zudem einem dichotomisch-konfrontativen Denken in Wortpaaren wie ‚lateinisch/arabisch’, ‚christlich/muslimisch’ usw. vor. Die Untersuchung der Prozesse von Passagen und ihrer Wirkungen auf das Eigene und das Andere gibt Aufschluß über die Ausbildung und das Aussehen korrespondierender Partner, die zunächst undefiniert bleiben.

Inhalte und Methoden

Unser Betrachtungsraum ist die gesamte Welt des Mittelmeers, die als ein durch ‚Passagen’ konstituierter gemeinsamer Raum von Traversen und den hiermit verbundenen Prozessen der Begegnung, Wahrnehmung und Deutung verstanden wird, an der mehr oder weniger alle historischen Anrainer partizipierten. ‚Mittelmeer’ wird also als Chiffre für das Prinzip der ‚Konnektivität’ verstanden und steht somit im vollen Wortsinn für ein ‚mittleres Meer’. Die Beiträge umspannen den gesamten Zeitraum des Mittelalters und nehmen das Phänomen der ‚Passage’ in den Themenfeldern ‚Kultur’, ‚Religion’, ‚Technik’ und ‚Wirtschaft’ in den Blick. Aufgrund des experimentellen Charakters der Sektion sind die Beiträge vorzugsweise als vergleichende Mikrostudien angelegt, deren inter-, trans- und intrakulturelle bzw. -religiöse Frageperspektive so angelegt ist, daß durch die Beschreibung der Prozesse die Räume zwischen, jenseits und innerhalb von ‚Kulturen’ und ‚Religionen’ allmählich herausgearbeitet werden. Die Begriffe ‚Kultur’ und ‚Religion’ werden daher zunächst bewußt offen gehalten.

Zielsetzungen

Unsere Sektion versteht sich im Hinblick auf das Thema wie auch hinsichtlich der nicht allein aus der deutschen Wissenschaftstradition stammenden Teilnehmer als ein Angebot zur Bestimmung und Überschreitung von disziplinären und nationalen Grenzen. Sie ist ein Ergebnis des seit 2005 von der DFG finanzierten Schwerpunktprogramms 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“, denn sie setzt sich vornehmlich aus ehemaligen Teilnehmern und heutigen Kooperationspartnern dieses Förderprogramms zusammen. Die Sektionsteilnehmer öffnen die mediävistische Forschung in Deutschland in mehrfacher Hinsicht:

a) durch eine dezidiert kulturwissenschaftliche Fragestellung

b) durch die Kombination der ‚Mittelalterlichen Geschichte’ mit nichteuropäischen philologischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Hebraistik und der Arabistik sowie der Judaistik und der Islamwissenschaften

c) durch die Integration der Wissenschaftssprache ‚Deutsch’ in einen bewußt multilingual und international konzipierten Workshop

d) durch die Partizipation von mehr oder weniger an den akademischen Traditionen zu den Mittelmeerstudien teilhabenden Wissenschaftstraditionen in Deutschland, Frankreich und Spanien sowie im Maghreb und in Israel

e) durch die Etablierung der Mittelmeerstudien im deutschen Wissenschaftsbetrieb.
Die Zusammenführung der verschiedenen Wissenschaftstraditionen der teilnehmenden Fächer ermöglicht einen Vergleich ihrer konzeptionellen Ansätze und bereichert so die jeweils eigenen fachspezifischen Fragestellungen.

Struktur der Sektion

Angedacht ist eine dynamische Präsentationsform, die zugleich eine interaktive Lehr- und Lernform für die Vortragenden und die Diskutanten darstellt: Die Sektion ist nicht als bloße Abfolge von Vorträgen, sondern als ein offener Workshop konzipiert, in dem nach einer knappen Einführung von 15 Minuten zweimal zwei Kurzvorträge von 30 Minuten Dauer zu ausgewählten Aspekten des Sektionsthemas miteinander verzahnt und durch jeweils eine Diskussionseinheit mit den Besuchern des Workshops von 30 Minuten angereichert werden sollen. Zwischen den beiden Sektionsblöcken ist eine Pause von 15 Minuten vorgesehen. Beschlossen wird die Sektion von einem kommentierenden Ausblick von 15 Minuten. Die Stellungnahmen der Vortragenden und Diskutanten sollen in den Sprachen der teilnehmenden Wissenschaftsnationen und -traditionen (Deutsch, Französisch und Englisch) gehalten werden. Hierdurch werden Grenzen zwischen den Vortragenden und Diskutanten markiert und überschritten. Zur Vorbereitung der Sektion tauschen die Beiträger der Sektion ihre Stellungnahmen vorher untereinander aus, um diese aufeinander abstimmen zu können.

Publikation

Angesichts des interdisziplinären und internationalen Zuschnitts der Sektion besteht Aussicht auf eine Publikation in dem ab 2010 erscheinenden dritten Jahresband der renommierten Zeitschrift „Viator“, der französischen, deutschen, italienischen und spanischen Artikeln vorbehalten sein wird.

Vorträge Epoche
Passagen über Grenzen. Einführung in ein Forschungsparadigma Geschichte des Mittelalters
Construction religieuse du territoire et processus d’islamisation au Maroc (IXe–XIIIe siècle) Geschichte des Mittelalters
Mittelalterlicher „Datenverkehr“ und seine Hürden Geschichte des Mittelalters
Multireligiosität im höfischen Leben. Barrieren und Grenzen? Geschichte des Mittelalters
Barrieren – Passagen Geschichte des Mittelalters