Historische Zäsuren

(29. September 2010 - 18.15 bis 20 Uhr - HS 2.301)

Leitung: Martin Sabrow, Potsdam/Berlin

 

Podiumsdiskussion

Gudrun Gersmann

Anselm Doering-Manteuffel

Konrad H. Jarausch

Werner Plumpe

 

Impulsreferat

Referent/in: Martin Sabrow, Potsdam/Berlin


Abstract

Zäsuren strukturieren unser Bild von der Geschichte. Nachdem im 19. Jahrhundert der Epochenbegriff seine Bedeutung vom Zeitpunkt zum Zeitraum verschoben hatte, etablierte sich im 20. Jahrhundert die Zäsur zur Leitkategorie eines nicht mehr als gesetzmäßig und kontinuierlich gedachten Geschichtsverlaufs, der vielmehr als von Katastrophen, Umbrüchen und Einschnitten geprägt verstanden wird. Über der Wucht von Zäsuren, wie sie mit 1914, 1918, 1933, 1945 und wieder 1989 verbunden sind, droht die Erkenntnis unterzugehen, dass Zäsuren keine Tatsachen darstellen, sondern Deutungen. Historische Zäsuren sind mit Droysen nur „Betrachtungsformen“ des ordnenden Historikers, nicht Eigenschaften der Welt und ihrer Entwicklung selbst. Die Suche nach Zäsuren entspringt dem Wunsch nach einer gültigen Ordnung des Zeitflusses und der von Thomas Mann im „Zauberberg“ festgehaltenen Hoffnung, dass das Weiserchen der Zeit nicht fühllos gegen Ziele, Abschnitte, Markierungen“ sei, sondern und „einen Augenblick anhalten oder wenigstens sonst ein winziges Zeichen“ geben solle, „dass hier etwas vollendet sei“.

Bei näherer Betrachtung relativieren sich Zäsuren in ihrer Geltungskraft. Ihre Reichweite ist selten global, sondern oft national oder regional und zudem sektoral begrenzt; wirtschaftliche Zäsuren unterscheiden sich von politischen, aber auch von medialen und sozialen. Ihre gesellschaftliche Eindringtiefe erweist sich häufig als geringer denn gedacht, wie die Forschungen zum „Augusterlebnis“ 1914 ebenso zeigten wie der Blick auf die Kontinuitäten „zwischen Stalingrad und Währungsreform“ oder das Bild von „1989“ aus der Perspektive der folgenden Vereinigungskrise.

Auch über die Fachdiskussion hinaus unterliegen Zäsuren beständiger Neubewertung; sie können rückblickend verblassen oder an Gewicht zunehmen. Für ersteres stehen nach 1945 etwa die Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 oder das Millenium, der Anschlag vom 11. September 2001 oder die EU-Osterweiterung von 2004, für letzteres etwa die Aufgabe fester Wechselkurse 1973 oder auch die Honeckersche Proklamierung der „Einheit von Sozial- und Wirtschaftpolitik“.
Zäsuren sind Produkte von Vergangenheitspolitiken und Deutungskämpfen, in denen sich das Selbstverständnis sozialer Gruppen und Gemeinschaften formt. Als Zäsur von Anfang an umstritten war die Novemberrevolution von 1918 und ist in den letzten Jahren vor allem die Zäsur von „1968“, die gegen die Boden gewinnende Konkurrenz der Zäsur der siebziger Jahre in die Defensive geraten ist. Ob der Umbruch von 1989/90 eine gesamtdeutsche oder nur eine ostdeutsche Zäsur bildet, ist heute ebenso Gegenstand öffentlicher Debatten wie die Frage, ob es sich um eine bloße „Wende“ oder eine „europäische Freiheitsrevolution“ handelte.

Macht ihre falsche Eindeutigkeit und zeitliche Wandlungsfähigkeit Zäsuren fachlich  obsolet, oder bleiben sie unentbehrliche Instrumente der historischen Selbstverständigung? Trifft die These zu, dass sie durch rezeptionshistorische Aussagekraft ersetzen, was ihnen an realhistorischer Relevanz abgeht, und rettet die Zäsur ihre Zukunft, weil sie geschichtskulturelle Aushandlungsprozesse sichtbar macht und so von historischer Identitätsbildung und Deutungshegemonie zeugen kann?

Zumindest für die Zeitgeschichte stehen fachliche Relevanz und öffentliche Performanz der Zäsur in scharfem Kontrast. Die Inflation ausgerufener und empfundener Epocheneinschnitte belegt das sich immer erneuernde Bedürfnis, Fluchtpunkte der historischen Betrachtung zu gewinnen, um abgeschlossene historische Phasen fassbar zu machen und erkennende Distanz zur eigenen Gegenwart zu gewinnen. Daraus erwächst die Frage, ob der Begriff Zäsur nicht zwei ganz unterschiedliche Epocheneinschnitte zusammenfasst, nämlich zum einen orthodoxe und zum anderen heterodoxe Zäsuren. Orthodoxe Zäsuren markieren Einschnitte, die gewohnte Sichtweisen bestätigen und fortschreiben; heterodoxe hingegen stellen überkommende Sicherheiten auf den Kopf und erzwingen eine rückwirkende Reorganisierung historischen Wissens und Wertens. Orthodoxe Zäsuren bestätigen unser Geschichtsbild, heterodoxe fordern es zur Reorganisierung heraus. 

In diesem Verständnis würde der welterschütternde Terroranschlag vom 9. September eine orthodoxe Zäsur darstellen, weil er keine neuen Sichtachsen und Denkhorizonte schuf, sondern bereits vorher bekannte bestätigte. Die weltgeschichtliche Wende von 1989/91 in Deutschland hingegen bedeutete im Ergebnis eine heterodoxe Zäsur, weil sie die Gültigkeit der bisherigen Ordnung der Dinge aufhob. Sie setzte neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens, die sich aus den alten Verhältnissen nicht hätten ergeben können, und bildet einen unhintergehbaren Sehepunkt, der seine eigene Historizität und Unerhörtheit rasch zur selbstverständlichen Normalität verwandelt hat. 

In dieser Unterscheidung könnte ein Ansatz zur Rückgewinnung der Zäsur für die Geschichtsschreibung liegen: nicht mehr als unbezweifelbare Eigenschaft des politischen oder wirtschaftlichen Geschehens, wohl aber als nachweisbarer Bestandteil der gesellschaftlichen Deutungskultur einer Zeit.

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