Grenzverschiebungen. Historische Semantik der 1960er und 1970er Jahre im deutsch-britischen Vergleich

(01. Oktober 2010 - 15.15 bis 18 Uhr - HS 1.406)

Leitung: Elke Seefried, London / Augsburg, Martina Steber, London

Moderation: Prof. Dr. Andreas Wirsching, Augsburg



1. Liberalismus – liberalism

Referent/in: Dr. Riccardo Bavaj, St Andrews


2. Markt – market

Referent/in: PD Dr. Dominik Geppert, Bonn


3. Demokratie – democracy

Referent/in: Dr. Holger Nehring, Sheffield


4. Konservatismus – conservatism

Referent/in: Dr. Martina Steber, London


5. Zukunft – future

Referent/in: Dr. Elke Seefried, London/Augsburg


6. Kommentar

Referent/in: Prof. Dr. Willibald Steinmetz, Bielefeld



Abstract

Die 1960er und 1970er Jahre lassen sich in der europäischen Zeitgeschichte als Periode des Übergangs fassen: Auf dem Fundament wirtschaftlicher Prosperität, verbreiterten Wohlstands und des rasanten Wachstums von Technik und Wissenschaft brachen sich in den 1960er Jahren tiefgreifende soziokulturelle Wandlungsprozesse Bahn, die sich in veränderten Normen, Werten und Ideen manifestierten. Paradigmatisch zeigten sich diese in den Debatten um Demokratie und Partizipation im Umfeld der Protestgeneration von „1968“ und in den heftigen Kontroversen, welche die gesetzliche Liberalisierung gesellschaftlicher Normen mit sich brachte. 

Am Beispiel der Bundesrepublik und Großbritannien lassen sich die ideellen Neuformierungen exemplarisch herausarbeiten, und das nicht nur angesichts der erhitzten öffentlichen Diskussionen um die Projekte der sozialliberalen Regierung in der Bundesrepublik und der Labour Governments in Großbritannien, der Programmdebatten, die besonders die konservativen Parteien beider Länder führten, und der heftigen industriellen Auseinandersetzungen jener Jahre. Der Prozess ideeller Neuverortung verstärkte sich mit der Erfahrung der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre, welche einen Paradigmenwechsel einzuleiten schien; vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden sozioökonomischen Strukturwandels (Tertiarisierung und Krise des fordistischen Produktionssystems sowie wachsende wirtschaftliche Internationalisierung) traten nun ideelle Neuformierungen ins öffentliche Bewusstsein, die als Folgen der Krise erschienen und sich etwa unter dem Label der „Tendenzwende“ profilierten, sich aber aus längerfristigen ideellen Neuvermessungen speisten. 

Die ideologischen Kämpfe wurden in der Bundesrepublik besonders heftig geführt, doch auch in Großbritannien waren die 1960er und 1970er Jahre von intensiven Debatten um die Grundsätze politischen Denkens geprägt. Trotz großer Unterschiede, die nicht zuletzt aus der vergangenen weltpolitischen Rolle Großbritanniens und der NS-Vergangenheit Deutschlands rührten, teilten die beiden Gesellschaften die Erfahrung ökonomischer Krisenanfälligkeit. Sie wirkte in Großbritannien um einiges tiefgreifender als in der Bundesrepublik und wurde neben anderem in der Metapher des „decline“ gebündelt. Aber beide Länder teilten die Parameter einer „westlichen“ Kultur des Kalten Krieges und sie teilten in den 1960er Jahren die Hoffnung auf Reform durch das Ideologieangebot der Linken. 

Vor ähnlichen Herausforderungen stehend, aber von einem strukturell sehr differenten Hintergrund ausgehend, formulierten Intellektuelle, Parteipolitiker, Journalisten und Wissenschaftler in beiden Ländern Deutungs- und Ideenangebote; dabei rezipierten sie durchaus die Diskussionen auf der jeweils anderen Seite des Kanals und tauschten sich aus. Die ideellen Neuformierungen waren also in einen nationalen Diskursrahmen eingepasst und schöpften aus nationalen Traditionen, gleichzeitig aber bewegten sie sich in einer internationalen Arena, die in erster Linie eine atlantisch-europäische war. Großbritannien kam dabei eine wichtige Brückenfunktion zwischen den USA auf der einen und Kontinentaleuropa auf der anderen Seite zu. Die Bundesrepublik befand sich dagegen im Zentrum des Ost-West-Gegensatzes, so dass die intellektuellen Zuspitzungen des Kalten Krieges hier in außergewöhnlicher Schärfe zum Tragen kamen; zugleich aber zeigte sich die junge Bundesrepublik für Impulse aus dem „westlichen“ Ausland besonders offen. Das für die intellectual history der neuesten Zeit charakteristische Zusammenspiel von nationalen Traditionen und transnationalen Verflechtungen lässt sich am Beispiel dieser beider Ländern daher deutlich greifen. 

Die Zeitgenossen erlebten den tiefgreifenden Wandel indes nicht allein als ökonomisches oder politisches Phänomen; vielmehr sahen sie so manche kulturelle Grundfeste unterhöhlt. Dazu gehörte auch die Sprache. Vielen schienen die Begriffe abhanden gekommen zu sein, verloren an den politischen Gegner, an die neue Jugendkultur oder die Werbestrategen der expandierenden Konsumgesellschaft. Der in beiden Ländern wahrgenommene Sprachwandel wurde zu einem politischen Thema, das teilweise gezielt besetzt wurde und in „Sprachpolitik“ mündete. Zugleich fand das Nachdenken über die Sprache Eingang in die Wissenschaft, wenn auch auf konzeptionell verschiedene Weise; für die deutsche Geschichtswissenschaft sei nur an Reinhart Kosellecks Begriffsgeschichte erinnert, die nicht von ungefähr in den 1960er Jahren ausformuliert wurde. Der linguistic turn erfasste die britische Geschichtswissenschaft etwas später, doch zog auch dort seit den späten 1970er Jahren das Thema erhöhte Aufmerksamkeit auf sich. Die zeitgenössische Sensibilität für die Sprache weist auf einen tatsächlichen Sprachwandel hin, der von den wenigen sprachgeschichtlichen Untersuchungen, die für die Bundesrepublik bislang existieren, auch vorläufig bestätigt wird. Die Sprache folgte einerseits dem soziokulturellen Wandel, andererseits prägte sie ihn entscheidend mit. 

Die politisch-programmatischen Neubestimmungen der beiden Jahrzehnte, die in enger Verzahnung mit dem intellektuellen Diskurs vonstatten gingen, wurden nicht von ungefähr als Kampf um die Begriffe geführt. Die Grenzen des Sagbaren wurden in den 1960er und 1970er Jahren mithin neu gezogen.
Die vorgeschlagene Sektion knüpft an diese Beobachtung an. Inspiriert vom Thema des Historikertages „Über Grenzen“ sollen Überlegungen zu semantischen Grenzverschiebungen im intellektuellen und politischen Diskurs Großbritanniens und der Bundesrepublik angestellt werden. Die Sektion möchte erstens den begrifflichen Wandel der 1960er und 1970er Jahre im deutsch-britischen Vergleich schärfer konturieren. An ausgewählten Beispielen, die unten noch näher vorzustellen sind, wird die Entwicklung, Verwendung, Verortung, Kontextualisierung und Abgrenzung einzelner, für den intellektuellen und politischen Diskurs bedeutender Begriffe untersucht. 

Dabei sollen nicht nur klassische Texte der Ideengeschichte in den Blick genommen, sondern auch „alltägliche Ebenen und Funktionen des Wortgebrauchs“ einbezogen werden, um damit die „beobachteten Kommunikationszusammenhänge selbst als Momente der Formulierung, Durchsetzung oder Zurückweisung“ von Begrifflichkeiten ernst zu nehmen. Eingedenk der Rückbindung der konkreten Begriffe an die „geschichtlichen Erfahrungsgehalte“ und eingedenk ihrer chronologischen „Mehrschichtigkeit“ kann das Verhältnis von longue durée und kurzfristigem Wandel ausgemessen werden. Auf diese Weise möchte die Sektion zweitens einen Beitrag zur europäischen Ideengeschichte leisten, ohne die nationale Dimension zu vernachlässigen. Gerade über die methodische Konzentration auf einzelne Begriffe öffnet sich eine äquivalente Vergleichsebene, auf der nationale Bedingtheiten und transnationale Verflechtung en detail studiert werden können. Zum dritten möchte die Sektion die Frage nach der Bedeutung der 1960er und 1970er Jahre als begriffsgeschichtliche „Wendezeit“ diskutieren und letztere, wenn nicht vor einem europäischen, so doch vor einem binationalen Hintergrund, deutlicher konturieren.

Die ausgewählten Begriffe gehörten zu den umkämpftesten ihrer Zeit und sind geeignet, den Diskurs in größtmöglicher Breite über die politischen Lager hinweg einzufangen. Nichtsdestotrotz stellen sie selbstredend eine Auswahl dar und können nicht beanspruchen, alle Facetten der ideellen Neuvermessungen auszuleuchten. Insofern kann die Sektion nicht mehr als Impulse zu einer weiteren Vertiefung geben. 

Vorträge Epoche
Liberalismus – liberalism Neuere/Neueste Geschichte
Markt – market Neuere/Neueste Geschichte
Demokratie – democracy Neuere/Neueste Geschichte
Konservatismus – conservatism Neuere/Neueste Geschichte
Zukunft – future Neuere/Neueste Geschichte