Individuelle Verlierer – kollektive Gewinner? Das Los als Entscheidungsmedium bei Amtswahlen in Mittelalter und Früher Neuzeit

BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Münster)
Einleitung: Zur Logik des Losens in vormodernen Allokationsverfahren

CHRISTOPH FRIEDRICH WEBER (Braunschweig)
Ordnungsgemäße Zustände? Losverfahren städtischer Obrigkeiten in der Praxis. Wahrnehmung und Aneignung

WOLFGANG ERIC WAGNER (Münster)
Losen statt Wählen: Ein herrschaftsfreies Verfahren zur Besetzung hoher Kirchenämter im Mittelalter?

NADIR WEBER (Bern)
Gott würfelt nicht. Losverfahren und Kontingenzbewältigung bei Ratswahlen in der frühneuzeitlichen Republik Bern

THOMAS WELLER (Mainz)
Kommentar

Abstract:
Über Gewinn und Verlust entscheidet mitunter der Zufall – so (zumindest auf den ersten Blick) im Falle von Losverfahren. Eine Entscheidung auszulosen heißt, sie dem blinden Zufall oder einem transzendenten Willen anheimzustellen und auf rationales Abwägen der Handlungsoptionen zu verzichten. Das Los entlastet von der Zumutung, die das Entscheiden unter komplexen Bedingungen darstellt, indem es die Entscheidung externalisiert, d.h. auf einer den Akteuren nicht verfügbaren Ebene ansiedelt. Doch das Los ist „organisierter Zufall“ (Barbara Goodwin). Es befreit von der Last komplexer Umstände und der rationalen Abwägung von Gründen immer nur innerhalb eines bestimmten Rahmens, auf den man sich zuvor geeinigt hat. Bevor gelost werden kann, muss die Frage präzise formuliert werden, auf die das Los antworten soll, und es müssen sich die Beteiligten der Entscheidung im Voraus unterwerfen. Das Los setzt vollkommene Gleichheit der Optionen voraus bzw. führt sie selbst herbei. Durch die Unabhängigkeit der Entscheidung von jedweder Deliberation wird die Kontingenz des Entscheidens dramatisch betont und die Entscheidung selbst als Ereignis inszeniert.
In Mittelalter und Früher Neuzeit war die Losentscheidung Gegenstand gelehrter Kontroversen, die um die Frage kreisten, inwiefern es sich um eine Delegation der Entscheidung an Gott handelte oder um eine pragmatische Vereinbarung der Beteiligten, sich dem Zufall zu unterwerfen. Die Zulässigkeit des Losens war umstritten, obwohl oder vielmehr gerade weil es in der christlichen Tradition als Mittel galt, den göttlichen Willen – womöglich mit teuflischer Hilfe – in Erfahrung zu bringen. Dennoch wurde das Los auf vielfache Weise in Entscheidungsverfahren eingesetzt, nicht zuletzt bei der Besetzung von Ämtern in Kirche und Stadtgemeinde. Obwohl die sortitio hinsichtlich der Kleriker- und Bischofswahlen laut Decretum Gratiani (1140) als unerlaubte Divination galt, wurden im hohen und späten Mittelalter tatsächlich durchaus immer wieder Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe durch das Los bestimmt (in der koptischen Kirche übrigens bis heute). In den Amtswahlverfahren vor allem italienischer Stadtkommunen gehörte das Los seit dem Hochmittelalter zum politischen Alltag; Venedig und Florenz sind die bekanntesten Beispiele dafür. In vielen transalpinen Städten wurde es vor allem zwischen der zweiten Hälfte des 17. und dem Ende des 18. Jahrhunderts im Rahmen von Ratswahlreformen eingeführt, um Legitimationskrisen der Ratsoligarchie entgegenzuwirken, so in Hamburg, Bremen, Frankfurt am Main, Münster und Bern.
Die Sektionsteilnehmer wollen die Logik des Losens anhand exemplarischer Fälle in Stadtgemeinde und Kirche untersuchen. Dabei sind vier Fragenkomplexe zu unterscheiden.
Erstens fragt sich, wann, von wem und aus welchen Motiven Ämterallokation überhaupt zum Gegenstand von Losentscheidungen gemacht wurde. Auf welche Konflikt- oder Krisensituationen wurde damit möglicherweise geantwortet?
Zweitens ist nach dem verfahrenstechnischen Ort und dem genauen Modus des Losentscheids zu fragen. Das Los wurde in der Regel in bestehende Verfahren zur Ämterallokation eingebettet. Dabei galt es eine Balance herzustellen zwischen Steuerung und Kontrolle einerseits und dem Einsatz des unkontrollierbaren Zufalls andererseits. Dazu diente die spezifische Rahmung des Losens: die Formulierung der Optionen, zwischen denen gelost und damit Chancengleichheit hergestellt wurde, die Bestimmung des Zeitpunkts im Verfahrensverlauf usw., wodurch die Kontingenz des Losverfahrens insgesamt beherrschbar blieb. Es ist zu untersuchen, wie diese Verfahrensmodi im Detail beschaffen waren, welchen historischen Veränderungen sie unterlagen, welche Ordnungs- und Stabilisierungsleistungen man sich davon versprach und welche tatsächlichen instrumentellen Effekte festzustellen sind.
Drittens ist die symbolisch-expressive Dimension von Losentscheidungen zu berücksichtigen. Die Zufallsentscheidung in Form von Würfelwurf, Ziehen von Kugeln, Bohnen, Stäbchen, Knochen, beschrifteten Zetteln oder dergleichen machte das Entscheiden als solches in seinem Ereignischarakter wahrnehmbar – mehr vermutlich als jede andere Verfahrensform. Zu fragen ist, inwiefern das Losen als blinder Zufall oder als Gottesurteil inszeniert wurde, an welches Publikum es sich richtete (oder vor wem es verborgen wurde), welcher ästhetischen Mittel man sich dabei bediente usw. Vor allem fragt sich, welche symbolischen Funktionen die Inszenierung des Losens erfüllte – etwa im Falle der bizarr vervielfachten Loselemente in städtischen Ratswahlverfahren, die sich instrumentell schwer erklären lassen.
Viertens soll schließlich die Reflexion des Losens durch die Beteiligten und durch externe Beobachter in die Untersuchung einbezogen werden: Welche Rolle spielte das Losverfahren im Rahmen theologischer, juristischer und politischer Diskurse, und inwiefern unterlag seine Beurteilung historischem Wandel? Hatte das Sprechen über das Los eine spezifische eigene Funktion?
Insgesamt versprechen wir uns von der Analyse dieser zentralen Allokationsverfahren geistlicher und weltlicher Amtsträger einen Zugang zu der vormodernen Kultur des Entscheidens ganz allgemein. Inwiefern diente der kontrollierte Einsatz des Losentscheids der Kontingenzbewältigung? Inwiefern hatte er tatsächlich die politisch stabilisierenden Effekte, die ihm von den Zeitgenossen zugeschrieben wurden? Im Hinblick auf das Rahmenthema des Historikertags lässt sich die versuchsweise formulieren, dass das Losen zwar immer individuelle Verlierer produzierte, aufs Ganze gesehen aber das jeweilige Kollektiv zum Gewinner machte.