Verkürzung vs. Ausweitung
Referent/in: Paul Nolte (Berlin)Abstract:
Für die Unterschichten waren im späten 19. Jahrhundert lange Arbeitszeiten soziale Realität und kulturelles Stigma zugleich, von dem sich die bürgerliche Lebensführung mit ihrer conspicuous leisure abhob. Beschleunigt seit den 1970er Jahren haben sich Lebenszeitressourcen jedoch verschoben, so dass sich das alte Muster nahezu umgekehrt hat. Einerseits erkämpfte die Arbeiterbewegung kürzere Wochen- und Lebensarbeitszeiten, andererseits führten Teilzeitarbeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Langzeitarbeitslosigkeit und vorzeitiger Ruhestand zu einer unfreiwilligen Ausweitung von „Freizeit“. Komplementär dazu haben sich die Arbeitszeiten der Mittel- und Oberschichten nicht nur ausgeweitet, sondern vor allem zu einem kulturellen Prestigefaktor sozialer Rangordnung und Lebensführung entwickelt. Der Vortrag argumentiert, dass soziale Ungleichheit auch in den postindustriellen Gesellschaften die Verfügbarkeit über Zeit bestimmt und Menschen je nachdem zu beschleunigtem oder entschleunigtem Leben zwingt. Es kann somit weder von einer generellen Beschleunigung noch von einer Standardisierung der Zeitregime gesprochen werden.