Logo des 49. Historikertags 2012 Ressourcen und Konflikte

49. Deutscher Historikertag 2012: Ressourcen - Konflikte

Verbotene Passagen. Eine neue Perspektive auf das methodische Problem der verhinderten Geschichte

Referent/in: Matthias M. Tischler

Abstract:
Unser Assoziationsspektrum zu ‚Ressourcen‘ hat sich inzwischen weit über ein rein materielles Verständnis von knappen, immer geringer werdenden oder reichlich, aber asymmetrisch verteilten Lebensbedingungen auf immaterielle Güter wie Zeit, Erfahrung, kulturelles oder religiöses Wissen und seine mediale Aufbereitung ausgedehnt. Gleichzeitig arbeitet die Geschichtswissenschaft schon seit längerem unter dem Etikett der ‚ungeschehenen‘ oder ‚verhinderten Geschichte‘ an einer Dekonstruktion etablierter Geschichtsbilder. Doch ist ein Schlüsselraum des sie hervorbringenden Geschichtsgebäudes bislang kaum besetzt, da in der Debatte über Transfer-, Transformations- und Verflechtungsprozesse im Mittelalter die Untersuchung der Kontrolle, der Unterbindung und des Verbotes von (neuen) Wissensressourcen, mithin die Frage nach der hierdurch kontrollierten, unterbundenen und verbotenen Geschichte ihrer Nutzung bislang kaum eine Rolle spielt. Dabei vermag gerade diese Frageperspektive etablierte Meistererzählungen einer allzu positiv besetzten Transfer- und Transformationsgeschichte zu dekonstruieren, da sie scheinbar stets und überall gelingenden, Grenzen überwindenden ‚Transfers‘ und durch sie ausgelösten ‚Transformationen‘ abgelehnte, verhinderte und unterbrochene Wissensflüsse und somit ausbleibende Folgen auf die Umformung von Kultur bzw. Religion entgegenhält. Da bis zur Frühen Neuzeit in den christlichen und muslimischen Mehrheitsgesellschaften Europas, Afrikas und Asiens hinsichtlich der Quantität und Qualität von religiösen Wissensressourcen große Diskrepanzen herrschten, wollen wir anhand von vier Fallbeispielen die Generierung, Verteilung und Kontrolle dieses Elitenwissens in verschiedenen mediterranen Regionen transkulturell vergleichend untersuchen. Vor dem Hintergrund ihrer ganz unterschiedlichen edukativen und religiösen Strukturen, Bedingungen und Begründungen wollen wir einerseits kulturelle Techniken der Bewahrung der Glaubensreinheit analysieren, die Juden, Christen und Muslime angesichts blasphemisch, häretisch, unmoralisch und obszön empfundener Textinhalte entwickelt haben, andererseits aber Strategien der religiösen Gedächtniskonstruktion, die hierauf aufruhen. Angesichts der großen linguistischen und kulturellen Distanz zwischen Hebräisch, Arabisch, Latein und Griechisch und der in den drei religiösen Kulturen vorgegebenen Normen soll gefragt werden, wer oder was jeweils die Autorität zur Formulierung, Durchsetzung und Sanktionierung von religiöser Normativität ausgeübt hat und in welchem Verhältnis hierbei einzelne Personen, Ämter und Institutionen sowie ihr Schrifttum zueinander standen. In diesem Feld lassen sich zwischen- und innergesellschaftliche Formen des Umgangs mit fremdem oder anderen religiösen Wissen in einem breit gefächerten und abgestuften Register von Konzepten, Formen und Medien der Kontrolle vergleichend untersuchen, die von intellektueller bis physischer Gewalt reichen können. Sind bei Juden und Muslimen zumindest in bestimmten Phasen Einflüsse des reichen Spektrums christlicher Autoritätsausübung zu beobachten, wie etwa die lehramtliche oder die genossenschaftliche Aufsicht über die Reinheit der Lehre, das Proliferationsverbot für als ‚häretisch‘ erklärte Literatur, die Erstellung von ‚Ketzerkatalogen‘, die Durchführung von theologischen Lehrzuchtverfahren bis hin zur Institutionalisierung der Beurteilung und Zensur von inkriminierten Personen und ihren Schriften? Das hierbei erkennbare Agieren soll aus der kognitiven Perspektive von Wahrnehmung und Deutung des fremden Traditionsgutes beurteilt werden, um zu klären, inwiefern wir von einem weitläufigen Spektrum der ‚Hinrichtung gefährlichen Gedankenguts‘ sprechen können. Ausgangspunkte des Vergleichs werden die uns vertrauteren Phänomene der christlichen Mehrheitsgesellschaften Europas sein. Zu denken ist hier an kommentierende und einhegende Polemik im exegetischen und theologischen Schrifttum in Form von Glossen und Traktaten, an tendenziöse, erklärende oder unterbleibende Übersetzungen und ihre Aufbereitung und Nutzung in pragmatischen gelehrten Buchformen zum Zwecke der polemisch-apologetischen Auseinandersetzung, an die gezielte Ein- und Auslagerung von fremdem religiösen Wissen in historiographischen und kartographischen Entwürfen, an Verbot, Wegsperrung und erschwertem Zugang von unerwünschtem oder gefährlichem Schriftgut (‚Zensur‘, ‚Giftschrank‘) und an den öffentlichen symbolischen wie repräsentativen Akt der Tilgung von blasphemischen Schriftpassagen oder der vollständigen Zerstörung von durch Zensur verurteiltem Schriftgut (Bücherverbrennung als ‚stellvertretende Hinrichtung‘). Wir hoffen hiermit personelle und institutionelle Kräfte markieren zu können, die sich gegen Megatrends zu stemmen versuchten oder die diese sogar maßgeblich zu beeinflussen oder zu verhindern wußten. Ein Ergebnis könnte sein, daß die Befürworter des interreligiösen Dialogs auf allen Seiten wie heute nur eine Minderheit von dissidenten, aber weitsichtigen Tabubrechern gewesen sind, dabei oft aber eine prominente Stellung in ihren Kirchen, Glaubensgemeinschaften und Gesellschaften einnahmen. Ein weiteres Ergebnis könnte sein, daß die Kontrolle von fremden (religiösen) Wissensressourcen kein Merkmal allein vormoderner religiöser Gesellschaften gewesen ist, sondern daß ihrer auch jede postmoderne (säkulare) Gesellschaft zum Zwecke der Identitätswahrung bedarf. So ist nicht nur die Reduktion der Komplexität von fremdem religiösen bzw. kulturellen Wissen, sondern gerade auch seine kontrollierte Integration für die Selbstvergewisserung, Stabilisierung und Handlungsfähigkeit gesellschaftlicher und religiöser Systeme unabhängig von ihrem Status als Mehrheit oder Minderheit notwendig, wenn die Legitimierung der im eigenen Traditionsbestand repräsentierten Ordnung stets der Delegitimierung des sie in Frage stellenden, fremden Traditionsgutes bedarf. Transfer- und Transformationsprozesse religiöser Alterität, verstanden als Signifikate des Integrationswillens und der Desintegrationsabsicht von Gesellschaften, geben uns Maßstäbe ihres jeweiligen kulturellen Selbstverständnisses an die Hand, weil sie Medien religiöser und sozialer Wirklichkeitskonstruktion sind.

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