Logo des 49. Historikertags 2012 Ressourcen und Konflikte

49. Deutscher Historikertag 2012: Ressourcen - Konflikte

Der Bruch mit der griechischen Philosophie im islamischen theologischen Diskurs. Warum sich al-Ġazālī (gest. 1111) gegen Averroës (gest. 1198) durchgesetzt hat

Referent/in: Stephan Conermann

Abstract:
Die Geschichte der Aneignung antiker Wissenschaften beginnt in der islamischen Welt mit dem 9. Jahrhundert. Neben der Übernahme naturwissenschaftlichen Wissens ist es vor allem die Philosophie, mit der sich muslimische Gelehrte intensiv auseinandersetzten. Parallel dazu entwickelte sich eine islamische Theologie, die zur Verteidigung des Glaubens gegen fremde Einflüsse ein Gebäude aufeinander genau abgestimmter und möglichst widerspruchsfreier Argumente errichtete, das den Muslimen die Gewissheit vermitteln sollte, im Besitz der endgültigen Wahrheit zu sein. Für die meisten Religionsgelehrten gehörte es dabei zu den grundlegenden und selbstverständlichen Erkenntnissen, dass Philosophie und Offenbarungswissen letztlich nicht nebeneinander bestehen können, sondern als jeweils eigenständige Diskurse miteinander um Deutungshoheit ringen. Da der Auszug des Propheten und seiner Gefährten von Mekka nach Medina und die damit verbundene Scheidung von allen nicht-geoffenbarten Traditionen für die muslimischen Theologen ein zentrales sinnstiftendes Element darstellte, mussten sie alle Traditionen, die sich nicht auf eine Offenbarung zurückführten, konsequenterweise als unislamisch und vollkommen verkehrt zurückweisen und verdammen. Die spätantike Philosophie hatte zwar durchaus auch religiöse Züge, sie beanspruchte aber, dieses religiöse Wissen allein auf dem Weg des rationalen Nachdenkens und nicht durch das Eingreifen Gottes zu erlangen. Wenn sich die ʿulamāʾ vor diesem Hintergrund mit den seit dem 10. Jahrhundert massiv einsickernden Strömungen aristotelischer und neuplatonischer Überlieferungen befassten, dann durfte dies nur unter zwei Aspekten geschehen: entweder man begnügte sich mit der Logik als einem von seinem ursprünglichen mentalen Umfeld befreiten Werkzeug, das für die eigene Argumentation genutzt werden konnte, oder man versuchte, die philosophischen Aussagen ausnahmslos mit dem offenbarten Glauben der Muslime in Einklang zu bringen. Ein Vertreter der zweiten Herangehensweise stellt Averroës (gest. 1198) dar, der als Kommentator der Werke des Aristoteles durch diesen Zugang seine lebenslange Beschäftigung mit den antiken Vorstellungen rechtfertigen und legitimieren wollte.

Die islamische Theologie durchlief während des 11. Jahrhunderts, als sie unter den Einfluss der ‚islamisierten‘ griechisch-römischen Philosophie geriet, einen tiefgreifenden Wandel. Stand der theologische Rationalismus der Philosophie bis dahin noch einigermaßen positiv gegenüber, so nahm diese Akzeptanz mit dem Sieg des Sunnitentums mehr und mehr ab. Zu dieser Zeit hatte sich ein ausschließlich auf der Scharia basierender Islam weitgehend vollendet. Ein sehr ausdifferenziertes und komplexes System lag nun ausformuliert vor, das jegliche Erscheinungen des alltäglichen Lebens und des Kultes auf den Koran oder die Sunna des Propheten zurückführte. Der Repräsentant dieses ganzheitlichen Islams war al-Ġazālī (gest. 1111), der nach seiner Abkehr vom Rationalismus den gemeinen Mann am liebsten von allem Spekulieren fernhalten wollte. Mit seinem Werk Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn (‚Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften‘) legte er – unter Einbeziehung gnostischer, philosophischer und mystischer Konzepte – eine Synthese vor, in der er jedem die ganz unintellektuelle Nachahmung des (angeblichen) Lebenswandels des Propheten empfahl. Letztlich war damit eine Synthese geschaffen worden, die bis in das 18. Jahrhundert Gültigkeit behielt und die heute unter gemäßigten Islamisten eine gewisse Renaissance erfährt. Zwar hörte das philosophische Denken unter Muslimen im 13. Jahrhundert keineswegs auf, doch waren die Strategien der ʿulamāʾ zur Verhinderung des Transferprozesses von spätantiker Philosophie in das muslimische theologische System letzten Endes erfolgreich.

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