Das Bild vom 'Kornjuden' als Antifigur zum frühneuzeitlichen Prinzip der 'guten narung' und der 'moral economy'
Referent/in: Robert Jütte (Stuttgart)Abstract:
Zu den knappsten Ressourcen in der frühen Neuzeit gehören das Getreide und damit auch das tägliche Brot. Immer wieder führten Hungerkrisen im Ancien Regime zu Konflikten und sozialen Unruhen („Brotkrawalle“). Ein soziales Ventil war die Suche nach den vermeintlich Schuldigen. Auf diese Weise konnte von den eigentlichen Ursachen, die häufig strukturell bedingt waren, abgelenkt werden. In diesem Zusammenhang kommt dem antijüdischen Stereotyp vom „Kornjuden“ eine zentrale Bedeutung zu. „Kornjuden“, so heißt es in Zedlers Universal-Lexicon von 1737, seien „gewinnsüchtige Vor- und Aufkäufer des Getraides, die zu wohlfeilen Zeiten das Getraide einsammlen und aufkauffen und es hernach zur Zeit der Theurung um einen unbilligen Preis mit einem unrechten Maase ohne Unterscheid wieder verkauffen, und also hierdurch in dem Lande eine Theurung verursachen.“ Die „Erfindung des ‚Korn-Juden‘“, wie es Manfred Gailus genannt hat, ist bislang vor allem aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht betrachtet worden. Eine Einordnung in die breite Palette antijüdischer Stereotypen (z.B. Taufjude, Münz-Jude, Wucherjude), die in der Frühen Neuzeit im Umlauf waren, fehlt. Zur Verbreitung dieses Stereotyps haben nicht nur Texte (darunter auch Fälschungen), sondern insbesondere bildhafte Darstellungen des Kornwucherers beigetragen. Diese ikonographische Traditionsbildung hat bislang keine besondere Aufmerksamkeit gefunden. Druckgraphiken und Spottmedaillen werden in der Forschung meist nur kurz gestreift, eine systematisch vorgehende ikonographische Analyse fehlt völlig. In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie der „Kornjude“ im Zeitalter knapper Ressourcen zu einem wirkmächtigen antijüdischen Stereotyp werden konnte, das im 19. Jahrhundert dann durch andere Zerrbilder abgelöst wurde.
