Wohin expandiert die Imperienforschung? Eine nötige Diskussion, auch im Hinblick auf das Wiederauftauchen des Imperialismus in Europa

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Moderation: Dieter Langewiesche (Tübingen)

Beteiligte:
Martin Aust (Bonn)
Ulrike von Hirschhausen (Rostock)
Martin Schulze Wessel (München)
Benedikt Stuchtey (Marburg)
Ricarda Vulpius (Münster)

 

Forschungen zum Imperium haben eine langanhaltende Konjunktur. Verstanden als eine komplexe politische Einheit mit einem Herrschaftszentrum und dominierten Peripherien ist das Imperium ein Phänomen, das nicht nur für die alte und mittelalterliche Geschichte, sondern auch für die Moderne in vielen Weltregionen prägend ist. In der Gegenwart hat die Diskussion über das Konzept des Imperiums, zu dessen Eigenschaften auch das Bestreben nach der Etablierung von Herrschaft über andere Nationen und Ethnien gehört, durch die mächtepolitischen Ansprüche Russlands und China eine neue Aktualität gewonnen.

 

In dem Round Table soll über Perspektiven und Blindstellen der aktuellen Imperienforschung diskutiert werden. So ist zu fragen, inwieweit der in der Forschung oft proklamierte Anspruch, postkoloniale Fragen in die Imperienforschung einzubringen, eingelöst wurde. Speziell im Hinblick auf die aktuelle politische Entwicklung stellt sich auch die Frage, ob die Forschungen zum „Imperium“ nicht einer viel stärkeren Rückbesinnung auf das Paradigma des „Imperialismus“ bedürfen. Imperien tendieren dazu, sich als eigene Welt zu begreifen und eigene Mythen zu schaffen. Im Sinne des Themas des Historikertags ist daher auch zu fragen, ob zwischen den Gesellschaften des Westens und Imperien wie Russland und China und auch interimperial die Verständigung auf „Fakten“ und auf einen kleinen Nenner gemeinsamer Deutungen dieser Fakten möglich ist.

Die Veranstaltung greift Fragen auf, die in der Geschichtswissenschaft seit 2014 und verstärkt seit dem 24. Februar 2022 kontrovers diskutiert werden.

 

Martin Aust: Unbeabsichtigte Komplizenschaft? Imperiengeschichte und Neo-Imperialismus

 

Nach 1989 arbeitete die Osteuropäische Geschichte daran, auch in der Historiographie die Ost-West-Teilung zu überwinden. Themen und Kooperationen sollten in einer europäischen und schließlich globalisierten Geschichte aufgehen. Die Imperiengeschichte Russlands hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet. Das Management von Vielfalt in Imperien, ob inklusiv oder gewalttätig, ist ein großes Themenfeld, auf dem Russland komparativ und beziehungsgeschichtlich integrativer Teil einer Globalgeschichte von Imperien geworden ist. Russlands Innen- und Außenpolitik der vergangenen Jahre und erst recht der neuerliche Überfall auf die Ukraine 2022 zeigen den Staat Russland jedoch mit just jenen Attributen, auf die die Geschichtsschreibung nach 1989/91 Russland nicht mehr stereotyp reduziert sehen wollte: Diktatur, Repression im Inneren, Aggression nach Außen, Angriffskrieg und Massenverbrechen. Der Impulsvortrag diskutiert die Frage, ob die Imperiengeschichte sich eine ungewollte Komplizenschaft im neo-imperialen Projekt Russlands eingestehen muss und welche Forschungsaufgaben vor der Imperiengeschichte liegen.

 

Ulrike von Hirschhausen: Neo-Imperialismus als Erklärung? Eine Kritik

 

Imperium und (Neo-)Imperialismus sind in unsere Sprache zurückgekehrt. Die expansionistische Politik Chinas, beispielsweise durch das Projekt einer neuen „Seidenstraße“, und vor allem Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine haben diese Begriffe wieder zum Teil des politischen Vokabulars von heute gemacht. Timothy Snyder hat die russische Aggression seit dem 24. Februar 2022 gar als „Kolonialkrieg“ bezeichnet.

 

Doch helfen diese Begriffe wirklich, die Gegenwart besser zu verstehen? Oder sind sie Notbehelfe, die nur auf die ganz anders geartete Welt der Empires zurückgreifen? Der Beitrag erklärt die Problematik von Begriffen wie Imperialismus und Imperium und kritisiert vor allem die Zentrumsperspektive dieser Semantik. Für die Abhängigkeit von Metropolen von ihren Randregionen war meist kein Platz, und Machtströme flossen in solchen Zugriffen grundsätzlich nur von westlichen Zentren in außereuropäische Regionen. Auch der Begriff des Kolonialkriegs geht an der Realität der globalen Allianz, in welche die Ukraine derzeit eingebunden ist, völlig vorbei. Doch welche Begriffe schließen die Gegenwart von Aggression, Expansion und Revision dann klarer auf, welche wir heute beobachten? Und warum kommen auch sie ohne die Wurzeln der imperialen Vergangenheit nicht aus? Vor diesem Hintergrund wird der Beitrag abschließend Vorschläge skizzieren, mit welchen Zugriffen wir uns der Geschichte von Empires und der Gegenwart neoimperialer Politik in Zukunft nähern können.

 

Martin Schulze Wessel: Imperium und Imperialismus - Zur Bedeutung der Mächtegeschichte für die Imperienhistorie

 

Die Imperienforschung der vergangenen Jahrzehnte hat sich vor allem für die innere Ordnung des Imperiums interessiert, etwa für die Fähigkeiten imperialer Eliten, mit der Heteroginität von Reichen umzugehen. Dagegen ist die Geschichte von Imperialismus - also die Frage nach der Expansion von Imperien und den dahinterliegenden Triebkräften - in den Hintergrund getreten. Diese Leerstelle der Imperienforschung ist angesichts der russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine besonders auffällig.

In dem Kurzvortrag soll danach gefragt werden, was ältere Imperialismusforschung - etwa Hans-Ulrich Wehlers "Bismarck und der Imperialismus" (1969) oder Dietrich Geyers "Der russische Imperialismus" (1977) uns heute noch zu sagen hat. Welchen Wert haben geopolitische Ansätze, wie sie jenseits des geschichtswissenschaftlichen Mainstreams z.B. von John LeDonne (The Russian empire and the world: 1700 - 1917. The geopolitics of expansion and containment, New York 1997) vertreten werden? Wie können die Dynamiken von Mächtepolitik heute sinnvoll in die Imperienforschung integriert werden?

Der Vortrag versteht sich als Plädoyer, Imperialismus- und Mächtegeschichte in die Imperiengeschichte zurückzubringen.

 

Ricarda Vulpius: Imperiums- und Nationsforschung – zur Bedeutung entnormativierter Geschichtsschreibung

 

Die Neue Imperiumsforschung hat die Forschung zum Russländischen Reich erheblich vorangebracht. Auch nach Russlands Überfall auf die Ukraine bedarf es keiner grundlegenden Änderung. Entscheidend ist für die historische Forschung, genauso wenig das Phänomen Imperium wie dasjenige der Nation wertend zu betrachten. Weder kann es hilfreich sein, Imperien in der Tradition des 19. Jahrhunderts und seiner Nationalbewegungen als ein zu überwindendes Entwicklungsstadium anzusehen; noch sollen Imperien mit imperialer Nostalgie als per se friedenswahrende, ethnische und religiöse Konflikte ausgleichende Staatsgebilde betrachtet werden, mit deren Ende sich zuvor unterdrückte Gewaltpotentiale Bahn brachen.

Der Impulsbeitrag ruft dazu auf, mit präzisen Begriffsdefinitionen verschiedene Formen imperialer Politik voneinander zu unterscheiden, so dass Vorgänge, die in der Forschung zu maritimen Imperien analytisch wie selbstverständlich unter Kolonialismus subsumiert werden, im Falle des Russländischen Reiches, der Sowjetunion oder der Russländischen Föderation nicht bloß aufgrund deren kontinentalen Ausdehnung als Bestandteile eines ‚absolutistischen‘, kameralistischen oder ideologisch getriebenen Staatsausbaus verhandelt werden. Begrifflichkeiten müssen einer multiperspektivischen Betrachtung standhalten und die Perspektive der russischen Bevölkerung genauso einbeziehen wie die der nicht-russischen.

 

Benedikt Stuchtey:

Der Impulsvortrag widmet sich aus der "westlichen" Perspektive den von imperialer Herrschaft aufgeworfenen Fragen von Sicherheit bzw. der Produktion von Unsicherheit in kolonialen wie inter-kolonialen Kontexten. Er stellt zur Diskussion, wie am Beispiel der Geschichte des Britischen Empire und anderer ausgewählter westeuropäischer Kolonialreiche die Prozesse von Kolonisation und Dekolonisierung mit den Dynamiken von (Un-)Sicherheit verwoben waren.

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