Zaur Gasimov (Sektionsleitung)

Zur Genese und Wiederaneignung imperialer Geographien. Transregionale Perspektiven aus Osteuropa und dem Nahen Osten

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Abstract

Bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert prägten imperiale Herrschaftsformationen Osteuropa und den Nahen Osten. Imperiale Raumbilder, d.h. Vorstellungen von Interessenssphären und „Pufferzonen“ und damit verbundene Rechtfertigungsstrategien für Expansionspolitiken und Zivilisierungsmissionen strukturierten die mentalen Geographien in diesen Großregionen. Als Imperien wie das Russische oder das Osmanische Reich im Zuge des langen Ersten Weltkriegs zerfielen, schienen diese Raumkonzepte durch postimperiale, auf der Idee der nationalen Souveränität und der Stabilität von Grenzen hin ausgerichtete Ordnungsvorstellungen überschrieben worden zu sein. Das Beispiel der Sowjetunion zeigt jedoch, dass Expansionsideen und imperiale Hierarchisierungen von Räumlichkeit auch in diesem Zeitraum wirkmächtig blieben. Seit den 1990er Jahren lässt dann sich im Nahen Osten und in Osteuropa eine Wiederaneignung und teilweise Neucodierung imperialer Raumbilder erkennen, deren Zweck in der Legitimierung einer hegemonialen Außenpolitik, teilweise aber auch der gewaltsamen Revision von Grenzen besteht.

Das Panel analysiert diese Entwicklungen mit einem Schwerpunkt auf neoimperiale Argumentationsstrategien im heutigen Russland und als „Neo-Osmanismus“ apostrophierte Akteurslogiken in der gegenwärtigen Türkei. Ausgangshypothese ist dabei, dass diese Prozesse nur in einer transepochalen und transregionalen Perspektive zur Gänze erfasst werden können, weshalb die Einzelvorträge einen Bogen vom 16. Jahrhundert in die Gegenwart spannen und Entwicklungen vom heutigen Polen bis in den Iran betrachten. Diese breit angelegte Perspektivierung soll neue, kulturgeschichtlich informierte Einsichten in derzeitige Konflikt- und Gewaltdynamiken in der Ukraine, dem Kaukasus und Syrien ermöglichen. Zugleich wird diskutiert, wie in einer Situation rivalisierender Herrschaftsansprüche diskursiv eine gegenüber der breiten Öffentlichkeit als unhinterfragbar dargestellte historische Faktizität erzeugt werden soll.

Albrecht Fuess (Marburg)
Der Irak zwischen osmanischen und safavidischen Herrschaftsansprüchen im 16. und 17. Jahrhundert. Ein vormodernes “Great Game”?

Der Beitrag thematisiert die Entstehung konkurrierender imperialer Herrschaftsansprüche und Konfliktdynamiken am Beispiel des Irak im 16. und 17. Jahrhundert. In einer breit angelegten transimperialen Perspektive werden dabei nicht nur die beiden Hauptkonkurrenten, das Osmanische Reich und das Safavidenreich, sondern auch das Habsburger Reich und Moskowiter Reich sowie das Elisabethanische England in den Blick genommen und aufgezeigt, wie sich die analysierten Konfliktkonstellationen auf die Ausbildung und Aktivierung imperialer Raumvorstellungen auswirkten.

Gözde Yazici-Cörüt (Leipzig)
Did “Self-Determination” (De)Mobilise Transcaucasians? A Discussion on their Position vis-à-vis Trans-imperial Competition and its Convoluted Legacy

This contribution focuses on the political imaginations of Transcaucasians after the First World War. Inspired by the approaches of “relational geography” it aims to highlight the diversity among these imaginations on the basis of how to establish national sovereignty, their internal (local and regional) and external (imperial and trans-imperial) connections and contradictions, and their tenuous position in the face of the political layout of the region by the early Soviet regime. This analysis provides a retrospective account of why Transcaucasia became one of the contested regions of the post-Soviet space and has been hard hit by the new world disorder.

Florian Riedler (Leipzig)
Lasst uns Rumelien vergessen! Die Position Südosteuropas in türkischen Raumvorstellungen

Der Beitrag untersucht die Rolle Rumeliens (das heißt des im Zuge der Balkankriege 1912/13 weitgehend verlorenen südosteuropäischen Teils des Osmanischen Reiches) im sozialen und kulturellen Gedächtnis der Republik Türkei. In drei Phasen änderte sich der Umgang mit diesem ehemaligen imperialen Kernland bedingt durch den Wandel der türkischen politischen Elite. Das wird besonders im Rahmen des sogenannten „Neo-Osmanismus“ von Turgut Özal (türkischer Ministerpräsident 1983-1989) bis Recep Tayyip Erdoğan augenfällig. Historische Imaginationen Rumeliens halten zunächst in die türkische Pop-Kultur und dann auch in die Außenpolitik Einzug.

Dennis Dierks (Leipzig)
Konzepte (post-)imperialer Neuordnung in Osteuropa im 20. Jahrhundert – und heute: Zur Rezeption Cafer Seydahmet Kırımers in der Türkei, Russland und Polen

Der Beitrag diskutiert am Beispiel des vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit international aktiven krimtatarischen Politikers und Publizisten Cafer Seydahmet Kırımer (1889-1960), wie imperiale Geographien mit neuen Raumordnungsvorstellungen überschrieben wurden und wie diese geographischen Imaginationen in der Gegenwart weiterwirken. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie Kırımers Eintreten für eine nationale Selbstbestimmung der Krimtataren und der Ukraine angesichts der Aktivierung neoimperialer Raumbilder heute in verschiedenen Diskursarenen des östlichen Europas und der Türkei bewertet wird.

Alexandr Osipian (Berlin)
Historical Myths and Justification of War: Inventing Novorossiya from Catherine II to Putin

This contribution examines the emergence and reappropriation of the imperial spatial imagination of “New Russia.” Whereas at the time of its emergence in the second half of the eighteenth century this mental geography described a civilizing mission supported by the ideology of the Enlightenment, which was shaped by an reinvented ancient Greek past of the
northern Black Sea region, the reactivation of this spatial imagination in contemporary Russia is accompanied by a complete recoding: the focus is now on nationalistically interpreted traditions of Cossackdom and Russian Orthodoxy with the aim of undermining the legitimacy of Ukrainian statehood.

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