Cordelia Heß Christoph Dartmann (Sektionsleitung)

The (ab-)use of the medieval past: nationalistische und rechtsextreme Mittelalternutzung

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Abstract

Ohne sich um wissenschaftliche Erkenntnisse zu kümmern, nutzen nationalistische und extrem rechte Akteur:innen immer wieder problematische Mittelalter-Narrative, um ihren politischen Zielen historische Tiefe zuzuschreiben. Die Mediävistik steht solchen Versuchen hilflos gegenüber, so lange sie nicht in der Lage ist, ihre Forschungsergebnisse jenseits binnenwissenschaftlicher Debatten in öffentliche Diskurse einzuspeisen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, politischen Instrumentalisierungen von historischen Epochen lediglich ein "wie es eigentlich gewesen sei" entgegenzusetzen. Die Analyse des aktuellen politischen Missbrauchs von Mittelalterbildern muss zu einem Kernthema mediävistischer Forschung werden, um gegen diese Hilflosigkeit anzukämpfen. Die Sektion präsentiert einerseits im europäischen Rahmen exemplarische Mittelalternarrative nationalistischer und extrem rechter Akteur*innen in ihrer kommunikativen und politischen Funktion: welche Gruppen, Parteien und Medien sind besonders präsent in der Verbreitung und Umdeutung von Mittelalter-Themen und -narrativen? Wie passt das in deren rhetorische und politische Strategien und Ideologien? Anderseits soll reflektiert werden, welche Expertisen zusammengeführt werden müssen, um als Mediävistik einen Beitrag zur Aufklärung über fragile Fakten und Deutungen jenseits akademischer Binnendiskurse beizutragen. Viele der rechten Mittelalter-Narrative existieren bereits in Ansätzen in der Populärkultur, in Computerspielen, Filmen oder Reenactment-Szenen, und sind damit noch weniger als politisch problematisch zu erkennen und in ihrer Bedeutung für die extreme Rechte zu analysieren. Wie können Historiker*innen aus unterschiedlichen Epochen und Expertisen zusammenarbeiten, welche Kanäle müssen dafür aktiviert und bespielt werden?

Karin Reichenbach (Leipzig)
Alt, älter, am ältesten? - Wiederbelebte Ethnogenesenarrative zwischen (Pseudo)Wissenschaft und neurechter Politik

Viele nationale Herkunftserzählungen gehen auf das 19. Jahrhundert zurück, als mit nationalromantischem Schwung nach den Anfängen des eigenen „Volkes“ gesucht wurde und vaterländische Geschichtsschreibung und Altertumskunde beflügelte. Obwohl Vorstellungen von ethnisch-homogenen Gesellschaften und entsprechenden Identitäten in Antike und Frühmittelalter im akademischen Diskurs überwiegend obsolet geworden sind,  scheint das Bedürfnis nach heroischen Ahnen und ungebrochenen kulturellen Kontinuitäten lebendig geblieben zu sein. Der Vortrag wirft einen vergleichenden Blick auf die aktuelle politische Bedeutung von Ethnogenesenarrativen in Deutschland, Ungarn und Polen. Er zeigt auf, wie sich Germanenmythos, Neo-Turanismus  und das Großlechitenreich „Wielka Lechia“ zwischen (Pseudo)Wissenschaft, Popkultur und nationalistischer Geschichtspolitik bewegen und vergleicht ihre unterschiedlich große gesellschaftliche Akzeptanz und politische Wirkmächtigkeit.

Ralf Hoppadietz (Leipzig)
Germanen und Wikinger als Projektionsfläche in der (radikalen) Rechten

Innerhalb der modernen (radikalen) Rechten ist eine starke Hinwendung und Bezugnahme auf Bilder und Narrative vermeintlich germanischer und generell nordischer Lebenswelten der Frühgeschichte zu konstatieren.  Damit soll die eigene politische Agenda in eine überzeitliche Kontinuität eingebettet und historisch legitimiert werden. Der Vortrag soll Beispiele für die Verwendung solcher Narrative innerhalb verschiedener Gruppen und Strömungen der (radikalen) Rechten zeigen und mögliche Erklärungsmodelle dafür aufzeigen. Gleichzeitig soll deutlich gemacht werden, wie die Übernahme und Verwendung bestimmter Geschichtsbilder in den Medien aber auch in Museen politisch belastete Narrative perpetuieren und damit gesellschaftlich anschlussfähig machen.

Alexander Will (Hamburg)
Mittelalterprojektionen und ‘völkische Siedler’

In den letzten Jahren hat das Thema neonazistischer Siedlungsbewegungen im ländlichen Raum eine größere Öffentlichkeit erlangt, wie unter anderem die breite Rezeption der Recherche “Völkische Landnahme” der investigativen Journalist:innen Andrea Röpke und Andreas Speit zeigt. Vergleichsweise wenig beleuchtet ist dabei bisher der Bezug auf eine gedachte ideale Vergangenheit, die die jeweiligen rechtsextremen Gruppen wiedererrichten möchten und insbesondere, was dies mit Mittelalterprojektionen zu tun hat. Häufig nämlich träumen jene rechtsextremen Gruppen von einem ‘einfachen Leben’, welches sie im europäischen Mittelalter wiederzufinden meinen und laden dies mit etlichen projektiven Bildern von ethnisch bzw. ‘rassisch’ reinen germanischen Stämmen auf. Hieraus wiederum leiten sie ein Weltbild ab, in welchem alles vermeintlich Andere keinen Platz hat. Die konkrete Verbindung aus Mittelalterprojektionen und völkischer Ideologie rechtsextremer Siedlungsbewegungen soll daher von Alexander Will in einem kurzen Vortrag genauer beleuchtet werden.

Fabian Virchow (Düsseldorf)
"Die Türken vor Wien“ - Narrative fortgesetzter Bedrohung in extrem rechten und rechtspopulistischen Publikationen

Mit Verweisen auf ‚Die Türken vor Wien‘ (1683) oder auf die Schlacht bei Tours und Poitiers (732) aber auch die Seeschlacht von Lepanto (1571) werden von Akteur:innen der extremen/ antimuslimischen Rechten als Nachweis eines immerwährenden Versuchs ‚des Islams‘ gelesen, Europa gewaltsam zu islamisieren. Entsprechende Narrative finden sich in den Publikationen dieser Akteur:innen in zahlreichen europäischen Ländern und bilden transnationale Referenzen ab, die ein wirkmächtiges Deutungsmuster produzieren. In diesen kommen militaristische Topoi und anti-muslimische Narrative strukturierend vor.

Christoph Dartmann (Hamburg)
Tausend Jahre deutscher Geschichte? Vom Wert angeblicher nationaler Größe

Im Umfeld der sogenannten ‚neuen Rechten‘ tauchen Bezüge auf antidemokratische Narrative und Theoreme auf, die sich vor allem auf das Deutsche Kaiserreich von 1871 und die Weimarer Republik beziehen. Das Mittelalter wird gelegentlich direkt zitiert, etwa die Kreuzzüge. Meist erscheint es jedoch gebrochen in seiner Verherrlichung durch den Nationalismus der Moderne. Am Beispiel von Rekursen auf die mittelalterliche Kaiserherrlichkeit befasst sich der Vortrag mit dem Gewinn antidemokratischer Rekurse auf eine längst vergangene Zeit.

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