Sozialfiguren – eine gesellschaftliche Erscheinungsform zwischen Faktizität und Fiktion im 20. Jahrhundert
Abstract
Die Ordnung einer Gesellschaft wird durch die Menschen bestimmt, die in ihr leben. Zugleich bringen Gesellschaften Figurationen hervor, in denen sich soziale Erfahrungen verdichten und die als „Sozialfiguren“ einen Referenzpunkt gesellschaftlicher Selbstverständigung bilden (Moebius/Schroer). Sozialfiguren werden in bestimmten Lebenswelten verortet und sind Ergebnis oft krisenhafter Erfahrungen, auf die es noch keine klaren (institutionalisierten) Antworten gibt. Dementsprechend drücken Sozialfiguren Problemlagen aus, ohne sie zu lösen. Welche epistemischen Leistungen Sozialfiguren als eine besondere Darstellungsform des Sozialen aufweisen, haben Soziolog*innen auf Gegenwartsgesellschaften bezogen bereits erörtert (Moser/Schlechtriemen). Die Vorträge wollen daran anschließen und das analytische Potential dieser Beobachtung um eine historische Perspektive erweitern. Sie betrachten Sozialfiguren dementsprechend nicht als Zustand, sondern als Prozess und fragen, in welchen gesellschaftlichen Kontexten bestimmte Sozialfiguren warum entstanden (und ggf. wieder verschwanden) und wie sie sich im Verlauf des 20. Jahrhundert entwickelten. Am Beispiel des ›Süchtigen‹, des ›Mitläufers‹, des ›Opfers‹, der ›Vorzeigefrau‹ und des ›Pflegefalls‹ fragt das Panel nach der Genese und Zeitgebundenheit spezifischer Sozialfiguren, die in den westlichen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts, oft auch transnational, dominant wurden. Untersucht wird insbesondere, inwieweit Sozialfiguren bestimmte Erfahrungen, Körperbilder und Imaginationen zum Ausdruck brachten, aber auch konkrete Machteffekte wie Inklusions- und Exklusionsmechanismen rechtfertigten. Schließlich soll diskutiert werden, auf welche Weise Sozialfiguren Evidenz erzeug(t)en und wo die Grenzen ihres analytischen Potentials liegen.
Seit die Figur des Süchtigen in der westlichen Moderne entworfen worden ist, dient sie als eine besondere Darstellungsform des Sozialen. In ihr verdichten sich gesellschaftliche Ängste und Krisenwahrnehmungen und, damit eng verbunden, soziale Ordnungsvorstellungen und politische Machtstrategien. Die rauschbedingte out-of-control-Situation versetzte Staat und Subjekt meist gleichermaßen in einen Ausnahmezustand, weshalb die Figur des Süchtigen als ein räumlich und zeitlich wandelbares Aussagesystem analysiert werden kann, das unterschiedliche Verschränkungen persönlicher und politischer Problemlagen in einer sich globalisierenden Welt des 20. Jahrhunderts offen legt.
Die rechtliche Institutionalisierung des ›Mitläufers‹ im Zuge der Entnazifizierung hat die Doppeldeutigkeit dieser Sozialfigur bestimmt: Während sie Entlastung von Verantwortung für NS-Verbrechen bedeutete, war das ihr zugrundeliegende Desengagement unter demokratischem Vorzeichen negativ konnotiert. In beiden deutschen Staaten repräsentierte der „Mitläufer“ eine ideologisch indifferente Masse, deren soziale Essenz in ihrem Konformismus bestand. Als Sozialfigur diente sie dazu, Modi der gesellschaftlichen und politischen Partizipation zu verhandeln, wobei sich die Bewertungsmaßstäbe mit dem jeweils vorherrschenden staatsbürgerschaftlichen Ideal wandelten.
Zuschreibungen, ein Opfer geworden zu sein, sind in weiten Teilen Europas seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert populär geworden – ein starker Kontrast zu dessen Beginn, als der Status des Opfers weitgehend den Toten vorbehalten war. Für die Lebenden galt, dass die Bezeichnung als Opfer in aller Regel mit einem Stigma behaftet war. Mit den Weltkriegen und dem Holocaust allein lässt sich der Aufstieg der Figur des Opfers zu einer relevanten Sozialfigur nicht erklären. Der Vortrag widmet sich dieser im 20. Jahrhundert überwiegend prekären Figur des Opfers, an der Verhältnisse von Gewalt und Macht, Sexualität, Verletzlichkeit, Resilienz und Subjektivität verhandelt wurden.
In der Sozialfigur der Vorzeigefrau verschmelzen die gesellschaftlichen Ängste, Wünsche und Hoffnungen, die mit dem Einzug von Frauen in Positionen von Handlungsmacht insbesondere in der Politik verbunden waren. Vor dem Hintergrund des Wandels von der Alibifrau zur Quotenfrau zwischen den 1960er und den 1980er Jahren untersucht der Vortrag am Beispiel rechtsnationalistischer Organisationen die Aushandlung der politischen Partizipation und gesellschaftlichen Rolle von Frauen und die changierende Funktion, die das Zeigen und Vorführen von Frauen für diese Organisationen erfüllte.
Im Kontext steigender Lebenserwartung, veränderter Biografien und Familienstrukturen sowie eines wachsenden Bewusstseins für die Stigmatisierung, Segregation und Diskriminierung behinderter Menschen gehört der ›Pflegefall‹ spätestens seit Beginn der 1990er-Jahre zu den prägenden Sozialfiguren in der BRD. Seit Einführung der sozialen Pflegeversicherung im Jahr 1995 wird auf diese Entwicklung mit einem komplexen Begutachtungssystem reagiert: Hilfebedarfe werden festgestellt, (Un-)Fähigkeiten beurteilt und Menschen in Pflegestufen eingeteilt. Am Beispiel der Unterstützten Kommunikation in der Pflege erschließt der Vortrag die Bedeutung von Medientechnologien für diese gesellschaftliche Problemlage.