Franziska Rehlinghaus Benno Nietzel (Sektionsleitung)

Qualifikationen (er)messen. Arbeit und Bildung im 20. Jahrhundert

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Abstract

Die Sektion widmet sich der Schnittstelle der Geschichte der Bildung, Arbeit und Subjektformierung im 20. Jahrhundert. Welchen Platz Individuen in der Gesellschaft einnehmen konnten, wurde zunehmend von ihren Bildungsvoraussetzungen determiniert und an Konzepte wie „Begabung“, „Leistung“ und „Qualifikation“ geknüpft. Die Semantiken dieser Begriffe waren jedoch hoch umstritten. Kontrovers diskutiert wurden nicht nur die Ordnungsversuche formaler Abschlüsse, sondern auch Qualifizierungsformen, die nicht in das Gefüge etablierter Normen passten, weil sie auf zukünftige Anforderungen zielten, nicht in nationale Standards übersetzt werden konnten oder „soft skills“ schulten, deren Substanz interpretationsbedürftig blieb. Wie ließen sich Bildung und Qualifikation messen, bewerten und vergleichen? Welche Verfahren wurden hierfür entwickelt, und welcher Rationalität folgten diese? Wie veränderten sich dadurch Bildungssysteme und Arbeitsgesellschaften?
Bildung für den Arbeitsmarkt wird in der Sektion als ein historisch wandelbares Konzept verstanden, das mit Hilfe von Normierungen, Indikatoren und Zahlen begriffen und handhabbar gemacht werden sollte. Die hierfür entwickelten Verfahren, so die zentrale These, konnten nur „fragile Fakten“ schaffen, da die Ansprüche an Qualifikationen sich veränderten und ständige Ent- und Neubewertungen hervorbrachten. Gleichwohl entschieden sie über Berufseinstieg, Karriere und soziale Aufstiegschancen. Im Zentrum stehen die Diskurse über und Praktiken der Bewertung von Qualifikationen, wie sie durch politische Umbrüche oder Paradigmenwechsel der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik virulent wurden. Die Beitragenden untersuchen die Genese und Kommunikation von Fakten über die Bildung von Arbeitssubjekten, fragen nach den maßgebenden Akteur:innen, rekonstruieren die Etablierung von Expert:innenkulturen und erörtern die Folgen ihrer vermeintlich verlässlichen Wissensproduktion für sozioökonomische und kulturelle Wandlungsprozesse.

 

Till Kössler (Halle-Wittenberg)
Die Vermessung von Eignung. Pädagogisch-politische Debatten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik

Am Ausgang des 19. Jahrhunderts formierte sich ein neues Verständnis von Eignung als einer spezifischen menschlichen Qualität aus, die wissenschaftlicher Beobachtung und Messung zugänglich sei. In der Folge diskutierten Pädagog:innen und humanwissenschaftliche Experten kontrovers über das Wesen von Eignung und ihre Formbarkeit und stritten zugleich über Messverfahren, die Eignung statistisch erfassen und abbilden wollten. Der Vortrag beschäftigt sich mit den Facetten und Folgen dieser Debatte über Eignung als Bildungsindikator zwischen der Jahrhundertwende und den frühen 1930er Jahren mit einem besonderen Bezug zu Fragen von beruflicher Qualifizierung und Arbeitswelt in Deutschland.

Olga Sparschuh (München)
Ein System zur Messung ausländischer Qualifikationen im 20. Jahrhundert? Die Gründung der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen 1905

Schon das Wissen über im Lande erreichte Qualifikationen ist umkämpft, noch viel mehr sind im Ausland erworbene Kenntnisse „fragile Fakten“. Seit 1905 entwickelte die in Preußen gegründete Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen daher ein System, um die „Gleichwertigkeit“ ausländischer Abschlüsse zu ermitteln. Der Vortrag untersucht, wie die Institution versuchte, verlässliches Wissen über ausländische Qualifikationen zu produzieren. Denn das Messen von Fachkenntnissen, die sich per Zeugnis nachweisen ließen, erwies sich nur scheinbar leicht, wenn die Ungewissheit über das Ausbildungsniveau des Herkunftslandes die Gleichwertigkeit der Qualifikationen in Zweifel zog. Spielten also Leistungsmessungen oder Ermessensentscheidungen die größere Rolle?

Franziska Rehlinghaus (Göttingen)
Bildung als Haushalt und Investition. Wachstumsversprechen und Fehlprognosen der OECD-Bildungsökonomie in den 1960er Jahren

In den 1960er Jahren etablierte die OECD ein Verständnis von Bildung als „Haushalt und Investition“, deren Wert darin bemessen wurde, ob es ihr gelang, „Begabungsreserven“ zu heben und das volkswirtschaftliche „Humankapital“ zu steigern. Bildung wurde zum Marker und Motor nationaler Leistungsfähigkeit und gesellschaftlichen Fortschritts. Der Vortrag rekonstruiert die OECD-Versuche einer rationalen Indikatoren- und Normbildung, um Bildungsstände zu messen, zu vergleichen und prognostizieren, und enthüllt die Ursachen dafür, warum es gegen Ende der Dekade zu einer substanziellen Krise der bildungsökonomisch argumentierenden Qualifikationsforschung kam, die ihren „fragilen Fakten“ selbst nicht mehr traute.

Jan Kellershohn (Halle)
Persönlichkeit und Begabung. Berufsbildung im Bergbau der DDR und der Bundesrepublik (1960er und 1970er Jahre)

Die 1960er und 1970er Jahre gelten als Schlüsseljahrzehnte für die Entdeckung des „Humankapitals“. Anhand eines Vergleichs der Berufsbildung im ostdeutschen Braunkohlenbergbau sowie im westdeutschen Steinkohlenbergbau wird in dem Beitrag nach den Kehrseiten dieses Siegeszuges gefragt. Wie veränderte sich die Vereindeutigung von Leistungsfähigkeit angesichts des Wandels der Arbeit? Persönlichkeit und Begabung als jeweilige Schlüsselbegriffe erwiesen sich als so persistent wie umstritten. Ihre Förderung bedurfte der Figuren der „negativ-dekadenten“ (DDR) und der „lernbehinderten“ Auszubildenden (BRD), deren Existenz sich als Bedingung des Qualifikationsimperativs herauskristallisierte.

Benno Nietzel (Frankfurt an der Oder/Bielefeld)
Was können die Ostdeutschen? Die Diskussion um berufliche Weiterbildung in den ostdeutschen Ländern in den 1990er Jahren

Im Rahmen der deutsch-deutschen Vereinigung schienen berufliche Umschulungs- und Weiterbildungsprogramme als wesentliches Mittel, um den ostdeutschen Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft zu bewältigen. Arbeitsmarkts- und Bildungsexpert:innen operierten in den frühen 1990er Jahren allerdings oftmals auf der Basis „fragiler Fakten“ über die Qualifikation der Ostdeutschen, denen häufig pauschale Qualifikations- und Verhaltensdefizite zugeschrieben wurden. Der Beitrag beschäftigt sich mit den empirischen Verfahren und Prozeduren, mittels derer die spezifischen Qualifikationsmerkmale ostdeutscher Bürger:innen im Vergleich zur westdeutschen Bevölkerung herausgearbeitet werden sollten.

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