Politik und Preisniveau. Inflationen und wirtschaftspolitische Paradigmen im 20. Jahrhundert
Abstract
Die derzeitige Rückkehr der Inflation nach einer relativ langen Phase der Preisstabilität erinnert daran, dass Steigerungen des volkswirtschaftlichen Preisniveaus eine regelmäßige Begleiterscheinung kapitalistischen Wirtschaftens darstellen. Unregelmäßig sind hingegen Ursachen und Ausmaße: Inflationen können ökonomische oder politische Gründe haben, Angebotsknappheiten oder Nachfrageüberhänge reflektieren, moderat oder dramatisch verlaufen. Inflationsraten sind nicht nur Indikatoren konjunktureller oder struktureller Problemlagen einer Volkswirtschaft. Sie sind zugleich ein gesellschaftsgeschichtliches Phänomen, weil sie Strukturen sozialer Ungleichheit beeinflussen und Zukunftsängste wecken, die Verhältnisse zwischen Gläubigern und Schuldnern nachhaltig verschieben und im Extremfall die finanziellen Lebensgrundlagen größerer Bevölkerungsteile zerstören können. Ihre Dämpfung gilt daher als zentrale Aufgabe der Wirtschafts- und insbesondere der Geldpolitik.
Die Vorträge der Sektion bewegen sich dementsprechend an den Schnittflächen von Wirtschafts- und Politikgeschichte. Im Längsschnitt durch das 20. Jahrhundert und im internationalen Vergleich soll der Leitfrage nachgegangen werden, inwiefern sich unterschiedliche politische Reaktionen auf den Wertverlust von Währungen und die damit einhergehenden Preissteigerungen auf ökonomische und wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel zurückführen lassen. Damit geraten Akteurskonstellationen in den Blick, die weit über das engere Feld der Geldpolitik hinausreichen: Die Zulassung oder Bekämpfung von Inflationen war Ergebnis von Aushandlungsprozessen, die ebenso von wirtschaftspolitischen Prioritäten und ökonomischer Expertise beeinflusst wurden wie von Wählerinteressen und medialer Kommentierung. Letzten Endes spiegelten sich darin die jeweils herrschenden oder umkämpften Vorstellungen von Zweck und Legitimität staatlichen Handelns und wirtschaftlicher Ordnungen.
Die Veranstaltung findet im Zimeliensaal des Museums statt.
Die Zentralbanken erlebten in der Zwischenkriegszeit eine starke Aufwertung ihrer wirtschaftlichen und politischen Rolle. Der wichtigste Grund dafür lag in den gravierenden Inflationen, die zahlreiche europäische Staaten nach dem Ersten Weltkrieg durchmachten. In den institutionellen Arrangements, die als Reaktion auf diese Inflationserfahrung geschaffen wurden, spielten unabhängige Zentralbanken mit politisch einflussreichen Präsidenten eine entscheidende Rolle. Die Zentralbanker verstanden sich dabei als eine Elite, die unabhängig von Ideologien und den Zwängen des politischen Tagesgeschäfts operierte. Dieses Selbstverständnis wurde während der Weltwirtschaftskrise zunehmend herausgefordert und machte neuen Politikmodellen Platz.
Die Hyperinflation von 1923 hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingeschrieben und prägte neben der Weltwirtschaftskrise und der Geldentwertung infolge der NS-Aufrüstung eine ganze Riege deutscher Zentralbanker, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Leitung der Bank deutscher Länder bzw. der Deutschen Bundesbank übernahmen. Jene Inflationserfahrungen der Zwischenkriegszeit sowie die daraus abgeleiteten Erkenntnisse über Wirkungszusammenhänge zu politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen bildeten die Basis für einen inflationsaversen Konsens, der zum festen Bestandteil einer restriktiven Geldpolitik der deutschen Zentralbank in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten wurde.
Die Einführung der Geldmengensteuerung 1974 gilt als prominentes Beispiel für den Übergang der westlichen Zentralbanken von einer keynesianisch orientierten zu einer monetaristisch verengten Geldpolitik. Trotz ihrer formalen Unabhängigkeit war die Deutsche Bundesbank jedoch in breitere politische Debatten über die Bewältigung der Stagflation eingebunden. Der Vortrag verortet die Position der Bundesbank im Inflationsdiskurs der 1970er Jahre und fragt, inwiefern der grundsätzliche Schwenk der Inflationsbekämpfung auf einen Paradigmenwechsel im geldtheoretischen Mainstream reagierte und wie sich die Furcht vor einer „galoppierenden“ Inflation auf die geldpolitische Praxis auswirkte.
Der Beitrag beleuchtet die antiinflationäre Ausrichtung von Margaret Thatchers wirtschaftsliberaler Reformpolitik. Er zeigt erstens die politische und intellektuelle Vorbereitung durch Krisen- und Niedergangsnarrative, wirtschaftswissenschaftliche Theorien und monetaristische Ansätze auf. Zweitens untersucht er die pragmatischen Anpassungen der Geldpolitik zwischen 1979 und 1990. In einem Ausblick auf New Labour diskutiert er die Anreize, die Grundzüge eines etablierten Paradigmas fortzuführen. Inflation wird damit nicht nur als wirtschaftliches Phänomen, sondern auch als politisches und moralisches Argument bei der Durchsetzung und Etablierung von Wirtschaftsparadigmen untersucht.
In den 1970er und frühen 1980er Jahren sahen sich die Regierungen zahlreicher Länder mit als neuartig empfundenen ökonomischen Unsicherheiten, wie wirtschaftlicher Stagnation, hoher Inflation und steigenden Energiepreisen, konfrontiert. Gleichzeitig herrschte die Angst, nationale Maßnahmen könnten zwar zum Vorteil einzelner Länder sein, aber negative Auswirkungen auf die globale Ökonomie nach sich ziehen. Der Vortrag behandelt die Frage, inwiefern Unsicherheit die Überlegungen zu möglichen Maßnahmen bestimmte und warum letztendlich internationale politische Initiativen und Steuerungsversuche scheiterten trotz der Erwartung, ein solches Verhalten könnte eine zweite große Depression einleiten.